„Wir brauchen Tausende von Don Quijotes!“
Fiston Mwanza Mujila, der kongolesische Sprachsaxofonist aus Graz
Seiner Liebe zum Jazz ist es zu verdanken, dass Fiston Mwanza Mujila Steirer geworden ist.
Oder sagen wir so: Das Land Steiermark hat jener Mitarbeiterin des Heinrich-Böll-Hauses (D), die ihm, ihrem damaligen Stipendiaten, mit den Worten: „Wenn du guten Jazz hören willst, solltest du nach Österreich gehen!" die Ausschreibung für den Grazer Stadtschreiber 2009/2010 in die Hand drückte, viel zu verdanken. Einen seiner international bedeutendsten Schriftsteller, nämlich.
Oder so: Der 1981 geborene Autor ist heute noch der Jury dankbar, die sich 2009 trotz zahlreicher anderer Bewerbungen für ihn als Stadtschreiber entschied. Ihn, einen Lyriker und Dramatiker aus der Demokratischen Republik Kongo, der zwar keine Publikation auf Deutsch vorweisen konnte, aber überzeugende Textproben. Schließlich fand er dadurch in Graz ein neues Zuhause - weit über die Stipendienlaufzeit hinaus. Und stellte hier mit Tram 83 auch jenen Roman fertig, der ihm so renommierte Auszeichnungen wie den Etisalat Prize for Literature 2015, den Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt 2017 und den Peter-Rosegger-Preis 2018 einbrachte.
Fakt ist: Es war das Zusammenspiel mehrerer glücklicher Zufälle, das Fiston Mwanza Mujila aus Lubumbashi im östlichen Kongo bei uns in Graz landen ließ. Und dass er nun da ist: Welch ein Glück!
Das Glück, den zum Grazer gewordenen Stadtschreiber persönlich kennenzulernen, wurde mir 2011 zuteil. Wobei ich anfangs, ehrlich gesagt, die beiden Herren Fiston und Mwanza Mujila für verschiedene Personen hielt. Hier, bei mir am Cafétisch, der schüchterne junge Mann, der mit leiser Stimme von seiner Kindheit in der Diktatur von General Mobutu erzählt. Dort, auf der Bühne, ein Anderer: Ein Dichter, der seine Texte nicht einfach nur vorliest, sondern herausschreit, -brüllt, -würgt, -singt, -lacht, ja, -trompetet ... Als ob nicht er seinen Figuren Leben einhauchte, sondern sie ihm. Ein Schamane, besessen von seinen Dämonen.
Dass zwei so unterschiedliche Persönlichkeiten in einem einzigen Menschen Platz finden, ist ja nun wirklich nicht unbedingt zu erwarten. Ist genauso unwahrscheinlich wie ein auf Französisch schreibender kongolesischer Autor von Weltformat aus Graz in der Steiermark ...
Zwei Personen heterogenen Charakters sind auch die Protagonisten des Romans Tram 83. Auf der einen Seite Lucien, der ernste, prinzipientreue Schriftsteller, der sich gegen die gesellschaftlichen Missstände engagiert. Auf der anderen, mit ihm in einer Art Schicksalsgemeinschaft verbunden, der Ex-Söldner Requiem. Als zynischer Unterweltsboss, genannt „Negus", hat er sich perfekt an die brutalen Lebensbedingungen, die in der Bahnhofskneipe Tram 83 herrschen, angepasst.
Im Tram 83 scheint das ganze postkoloniale Afrika mit all seinen Problemen Platz gefunden zu haben: „abtrünnige Generäle", gierige „Touristen", ausgebeutete Frauen, Kinder, Bodenschätze ... „Im Anfang war der Stein, und der Stein schuf den Besitz und der Besitz den Rausch" - es ist eine hypermaterialistische, verzweifelt hedonistische Welt, die Mwanza Mujila mit wenigen, aber umso einprägsameren Motiven abbildet. Eine Welt, in der sich alles um den Besitz dreht. Eine Erde aus Alkoholismus, Prostitution, Gewalt - und Musik.
Die Musik der dauergroovenden Jazzband im Tram 83, ja - vor allem aber auch jene von Mwanza Mujilas Prosa. Es ist dieser atemlos dahinjagende Rhythmus, ähnlich den Versen seiner Gedichte, voller Chiffren und Burroughs´scher Cut-ups, der den im Roman dargestellten Wahnsinn zusammenhält. Und mitten drin in der souveränen Montage aus Sprachmusik und Handlung finden sich sogar poetologische Selbstreflexionen: „Mir ist klar geworden, dass ich meinen Sätzen die Lebenswut dieser Züge, der Züge von hier, einhauchen möchte. Ihre Präsenz, ihren Stolz, ihre animalische Wut, ihre Baufälligkeit und den Rost, der sie zerfrisst."
Als der engagierte Autor Lucien im Tram 83 zur Lesung antritt, hagelt es erst Beleidigungen, dann Flaschen, dann Schläge - „Haut ihm auf die Fresse, damit er lernt, dass wir nicht zu seiner Unterhaltung da sind!" Danach wird der unbeirrbare Optimist mit siebzehn Stichen genäht ...
Diese Passage beruht glücklicherweise nicht auf autobiografischen Erlebnissen. Aber auch Luciens Erfinder kam mit Mitte Zwanzig zu dem Schluss, dass man im Kongo als Schriftsteller nicht leben kann. „In den meisten afrikanischen Ländern gibt es keine Infrastruktur, die Literatur ermöglicht", erzählt er. „Es gibt ja nicht einmal richtige Regierungen ... Kultur kann eben erst dann entstehen, wenn man satt ist. Schule, Universität, Bibliotheken - für das alles muss man Geld bezahlen. Die meisten Leute haben aber kaum genug, um zu überleben. Wenn man dort Schriftsteller ist, wird man wie ein Kind behandelt: ,Hehe, du bist über dreißig und schreibst noch? Das ist doch kein Beruf!´ Nun, ja: In Afrika haben nur die Reichen Zeit für die Kunst ... Um all das zu ändern, brauchen wir einfach mehr Typen wie Lucien. Er ist ein Utopist, ein Don Quijote. In Wirklichkeit brauchen wir Tausende Don Quijotes. Nicht nur in Afrika - überall."
An einem Roman über einen weiteren Don Quijote, den Wiener Afrikaforscher Oskar Baumann (1864-1899), arbeitet Mwanza Mujila zurzeit. Auch als Lyriker und Dramatiker ist er hochproduktiv: Für die heurige Auflage von La Strada entwickelte er das Opernlibretto Seppi. Das Kind, das nicht aufhörte zu wachsen, zu dem der Saxofonist Patrick Dunst die Musik schrieb. Gemeinsam mit Dunst entstand auch die CD Virtues, ein Zusammenspiel aus Jazz und Lyrik, mit dem die beiden schon bei der Präsentation der manuskripte 219 im Schauspielhaus Graz begeisterten. Dort wird, im Rahmen des Steirischen Herbstes 2018, auch die Bühnenfassung von Tram 83 zu sehen sein. Und am Wiener Burgtheater gelangt im Februar 2019 Mwanza Mujilas Drama Zu der Zeit der Königinmutter zur Uraufführung - der erste Text, den der Autor auf Deutsch verfasste: „Ich habe bei uniT studiert und das Stück im Kurs entwickelt."
Wenn er gerade nicht schreibt oder performt, unterrichtet der studierte Literaturwissenschaftler an der Uni Graz afrikanische Literatur. Oder er streift mit seinem dreijährigen Sohn durch die Stadt. Und einmal im Jahr reist er in den Kongo, besucht seine Eltern in Lubumbashi und beweist seinen ehemaligen Mitschülern, dass Schriftsteller ein ernstzunehmender, wichtiger Beruf ist, den man auch mit über dreißig noch erfolgreich ausüben kann ...
Eines zeigt sich jedenfalls deutlich: „Fiston", wie er von seinen Grazer Freunden und Bekannten, auch weniger engen, meist kurzerhand genannt wird, ist mittlerweile nicht nur dem Wohnort nach ein steirischer Autor. Tatsächlich beginnt sich in seinem Werk eine wundersame Symbiose aus afrikanischer und europäischer Kunsttradition abzuzeichnen, ein Brückenschlag über alle Grenzen und Ängste hinweg, wie er sonst nur der Musik, dem Jazz etwa, gelingt.
Fakt ist: Wir brauchen Tausende Fistons!
Andreas Unterweger, Juli 2018