Süffiger Sound sucht sensitives Sortieren
Der Dirigent Leonhard Garms lernte in Graz die Neue Musik kennen und lieben.
Als junger, in Italien aufgewachsener Dirigent österreichischer Eltern fand Leonhard Garms seinen Weg etwas unbeabsichtigt nach Graz, doch genau dort erreichte er ein Biotop, welches ihn in seinem Streben nach Musik aufnahm und unterstützte. Das, obwohl er anfangs schockiert war von der an der Kunstuniversität Graz praktizierten „Neuen Musik": Die Klänge, die Motorik und Melodik waren für ihn neu und verstörend. Das emotionale Unverständnis, welches der spätromantisch und freitonal geprägte Musiker empfand, wandelte sich aber in eine fruchtbare Atmosphäre. Was ihn zum Bleiben bewog, waren die Menschen, die Musikerpersönlichkeiten, die Lehrer und Kommilitonen, und mit dem Kennenlernen neuer Freunde wuchs auch das Verständnis und Interesse an moderner Musik - bis sie schließlich zu seinem Lebensmittelpunkt werden sollte.
Nach dem Studium in Graz zeichnete sich eine Kapellmeisterlaufbahn ab. Als Korrepetitor in Berlin und Regensburg hatte Garms viel Arbeit und erlebte eine intensive Zeit. Viele verschiedene Aufgaben waren zu erledigen, darunter das Einstudieren, Dirigieren, Betreuen und Arrangieren von Musicals, Opern, Operetten, Balletten, Konzerten, das Nachbearbeiten von Aufnahmen und Untertitel; er fand dabei aber immer weniger Erfüllung und entschied sich, als Freelancer zu arbeiten. Nach einiger Zeit als Korrepetitor und Assistent für Oper an Opernhäusern und Festivals nahm ihn sein ehemaliger Chef nach Istanbul mit. Trotz der Faszination und des unwiderstehlichen Lebensgefühls zog es ihn weiter nach Wien, und dort wurde es für ihn auch in künstlerischer Hinsicht interessant. Als Dirigent kooperierte er mit kleineren, auf moderne Musik spezialisierten Ensembles. Über das „Impuls Festival" ergab sich eine Assistenz für Beat Furrer, das Dirigat für das französisches Ensemble soundinitiative begann, und diesem schlossen sich schließlich Projekte mit der Oper Graz, mit dem Ensemble Schallfeld und dem Blackpage Orchestra an, dem neuerdings auch Kollaborationen mit dem Ensemble Phace und dem renommierten Klangforum Wien folgten.
Passagen passend proklamieren
Garms macht sich keine Illusionen über das Showbiz und die schauspielerischen Qualitäten von Stardirigenten. „Jedes anständige Orchester kann das symphonische Repertoire auch ohne Dirigent fehlerfrei spielen, bei den meisten modernen Kompositionen müssten die Musiker jedoch unverhältnismäßig viel Zeit investieren, um sich untereinander zu koordinieren. Das macht den Dirigenten zum unverzichtbaren Bestandteil und in erster Linie in technischer Hinsicht wichtig."
In Garms‘ Rollenverständnis sorgt der Dirigent hauptsächlich dafür, dass die ausübenden Musiker funktionieren können. Das Einbringen der eigenen Vision ist vorerst gar nicht entscheidend, im Vordergrund steht die Abwicklung der Proben, um die reibungslose Kommunikation zwischen den Teilnehmern des Projektes zu garantieren, und das Schärfen der gemeinsamen Richtung.
Der künstlerische Aspekt tritt erst dann hinzu, wenn Strukturen charakterisiert werden. Garms nennt das „die Überschrift einer Passage" definieren bzw. herausarbeiten. Der Dirigent muss im Rahmen des Möglichen eine Klangvorstellung realisieren: In der Neuen Musik sind das oft Parameter, welche in das Bewusstsein rücken und wieder verschwinden. So ist beispielsweise manchmal „kurz" wichtig, zwei Takte später dann „Kontrast", dann geht es um eine Reaktion zwischen Instrumenten untereinander oder um ausgewogene Tonhöhen oder Klangfarben. Der Dirigent muss hier sehr persönliche Schwerpunkte setzen und jedem den Platz zuweisen. Das mündet unter anderem in sehr sinnliche Erkenntnisse á la „du bist ein unruhiges Hintergrundgewusel, die hohen, hellen Akzente müssen sich aber durchsetzen". Damit können Musiker etwas anfangen, und diese Anleitungen machen die oft sehr komplexen Notentexte emotional begreifbar.
Eine zentrale Fragestellung für Garms ist, inwieweit man sich vom Notentext entfernen darf oder soll, um die Funktion des Geschriebenen zu verdeutlichen. Oft sind Aktionen sehr dicht gesetzt, Partituren quellen über vor Noten und Zeichen, die Texte sind auch für geübte und spezialisierte Musiker sehr anspruchsvoll. Zu erkennen, ob beispielsweise ein extrem komplexer Rhythmus eine tatsächliche Relevanz hat, oder ob es nur darum geht, dass eine unruhige Bewegung installiert wird, stellt das Gespür des Dirigenten auf eine Probe. In solchen Fällen spricht Garms von „kontextsensitivem Sortieren". Das spart Zeit, denn diese ist für das Einüben der Stücke, aber auch für die gemeinsamen Proben sehr begrenzt: Meist müssen drei Ensembleproben reichen, um ein Stück zur Aufführung zu bringen.
Konzept kontra Körper
Leonhard Garms ist seit einigen Jahren Mitglied des Ensembles Schallfeld, das sich gerne der Kerndisziplin Neuer Musik hingibt: dem Klang. Garms liebt das körperliche Eingreifen in Expressivität und Sound, das Schwelgen in Klang und ausdifferenzierten Nuancen. Die in Konzeptkunst praktizierte Distanzierung versteht er - bei aller Bewunderung und allem Respekt - als Symptom unserer Zeit und vermisst hierbei oft den körperlichen und emotionalen Zugang. Erst über diesen wird seiner Meinung nach ein Rezipient in den Bann eines Kunstwerkes gezogen, um sich dann noch weitergehend zu vernetzen bzw. weitere Vernetzungsebenen zu erschließen.
Neuerdings interessiert Garms sich auch für Inszenierung, ein Stiefkind des Konzertbetriebes, für Bühnen- und Lichtdesign und für die Dramaturgie von Musikstücken im Verlauf eines Abends. Szenisch gut konzipierte Konzerte üben auf das Publikum seiner Meinung nach eine große Anziehungskraft aus, die Musik kann sich hierbei noch intensiver entfalten. Für die Zukunft wünscht er sich neben den bisherigen Tätigkeiten auch einen Fokus auf klassische Orchesterkonzerte, vor allem wegen des klassisch-romantischen Repertoires. Auch er als Ensembledirigent vorwiegend konzentrierter Besetzungen kann sich der Strahlkraft eines Orchesterapparats nicht entziehen.
denovaire
Stand: Februar 2017