Der berechtigte Augenblick
Hermann Pitow meistert die Königsdisziplin der Bildhauerei: die menschliche Figur.
„Bruck an der Mur, Bruck an der Mur", dröhnt es aus dem Zuglautsprecher. - Zum letzten Mal habe ich den Nachtzug in Bruck versäumt nach der Whiskey-Verkostung in der Galerie von Hermann Pitow, Bildhauermeister (wovon es wenige gibt), Maler (wozu der Bildhauer genötigt ist, wenn er skulptural aus allen Nähten platzt), Präsident des Brucker Künstlerbundes (was für einen energischen Künstler irgendwie auf der Hand liegt), Galerist (weil man unabhängig sein will) und Kursleiter (weil man an solide Fundamente glaubt). Kurzum: Herrman Pitow treff‘ ich, der neben vielen anderen Arbeiten schon vor gut zwanzig Jahren damit begonnen hat, Frauen in Lebensgröße in Gips abzugießen. Dieses akribische Einsammeln der Realität erfordert nicht nur hohes technisches Geschick, sondern auch ein gerüttelt Maß an Geduld. Von Bildhauer und Modell!
Doch gemach. Schauen wir uns zuerst einmal das Spielfeld an und prüfen wir den Rasen, woraus alles hervorwächst. Die Kunstgeschichte erzählt ja bloß linear und pflückt so einzig die Maiwipferl vom Strukturbaum, sie glaubt ans Vorwärts, erwähnt kaum die Voraussetzung, vergisst die Umwege, ignoriert Varianten und Ausfaltungen und macht sich ganz sicher keine Sorgen um die Miete. Malewitsch ist ihr einzig ein schwarzes Quadrat, Pollocks Post-Dripping ignoriert sie ...
Expressionismus - Kubismus - Realismus ...
Hermann Pitow, Jahrgang 1954, absolvierte seine künstlerische Ausbildung zuerst bei Alexander Silveri und dann bei Josef Pillhofer, was ebenso eine Zäsur darstellte wie auch einen Übergang bildete zwischen einer noch stärker expressiv gewerblichen Bindung („Bei Silveri bearbeiteten wir auch bildhauerische Aufträge") und freier Bildhauerei im Sinn der klassischen Moderne („Bei Pillhofer lernten wir die grundsätzliche, plastische Grammatik der Bildhauerei ...").
Auch der Gegensatz zwischen Expressionismus (die „Kampfspur" der inhaltlichen Voraussetzung wird bis in die Textur hochgezogen, also wenig Glätte an der Oberfläche, manch spitze Winkel, oft religiöser Antrieb, meist zeichenhafte Haltungen der Figuren ...) eben im Gegensatz zu tektonischer Gestaltabsicht, die Figur aufgefasst als plastisches Gestaltkonzept im Raum, abzielend auf Ewigkeitsanspruch, das spielte eine große Rolle - und natürlich das sachliche Naturstudium direkt am Modell, ohne expressiv inhaltliches „Aufpeppen" und Attraktivieren der Figur durch Verzerrung oder Übertreibung.
Nach der Ortweinschule inskribierte Hermann Pitow kurz bei Joannis Avramidis in Wien. Aber wozu sich ein Studium selbst finanzieren, nur um ein Diplom zu erwerben? Also geht's nach Stuttgart, drei Jahre zu einem deutschen Bildhauer in die Werkstatt. „Künstlerisch war‘s nicht so anspruchsvoll, aber technisch hab ich dort viel gelernt." Die geplante Übernahme eines Steinmetzbetriebs in Bruck zerschlägt sich danach aber.
Wirklich lernt man einen Künstler kennen in seinem angestammten Umfeld, an seiner Wohn- und Arbeitsstätte. Arbeiten und Haus renovieren gehen bei Hermann Pitow nahtlos ineinander. Da wird nicht bloß eine Treppe angelegt, da wachsen auch gleich Reliefs aus den Seitenwänden, mit Putz hinaufmodelliert wie bei Antoni Gaudi, dazwischen garniert mit Kleinplastiken, aber auch akzentuiert mit Fund- und Alltagsgegenständen. Eine künstlerische Synthese aus Absicht und Zufall, aus Lebensweise und Gestaltungsabsicht; Wirkung entfaltend ebenso als Einzelfigur wie auch als Formenensemble.
Die Königsdisziplin in der Bildhauerei bleibt aber die menschliche Figur, weil die differenziertest ausformulierte Existenzform eine Fülle von Problemstellungen für formale Transformationen kredenzt, und gleichzeitig ist der Künstler „stets an die Sinndeutung der Welt gebunden" (Andre Malraux). Welche Rolle spielt dabei der Abguss, die Hinnahme des Gegebenen, die den Menschen aus den Veränderungen der Erlebniswelt in einem bestimmten Augenblick evakuiert?
Die Unbekannte aus der Seine
Am folgenreichsten für die Kunst waren wohl die Lavaausgüsse aus Pompeji, das unbeabsichtigte Konservieren des Katastrophentodes nach dem Vulkanausbruch. Danach verbindet man Gipsabgüsse von Menschen vor allem mit den Arbeiten des Amerikaners George Segal. Bei uns tauchen die Arbeiten von Segal in den 1970er Jahren auf, die Frage aber „Form oder Haut?" stellte sich bereits mit Auguste Rodin, dem man ja unterstellte, für seine Plastik „Das eherne Zeitalter" das Modell abgegossen zu haben, wogegen er sich heftig und erfolgreich zur Wehr setzte, galt der Abguss damals doch noch einzig als Hilfsmittel.
Erst mit der Pop-Art in den 60er Jahren wurde der Abguss inhaltlich legitimiert. Als konkretes Mitmischen und Aufmischen der zivilisationsbedingten Dingwelt nämlich wie auch als exemplifizierte Verfremdung der zivilisatorischen Gegenwärtigkeit. Erinnern bei George Segal die Gipsabgüsse mehr an gespenstische, weil aufs monochrome Weiß reduzierte Wiedergänger aus dem Holocaust, so sind sie bei Hermann Pitow Bestandsaufnahmen eines schönen, aber vergänglichen Körperzustands: Sie zeigen die ganze Fülle des Moments und haben mehr vom Memento mori der Totenmaske des unbekannten ertrunkenen Mädchens aus der Seine.
Um seine stabilen Hüllen für das Augenblickliche anzufertigen, stellt Hermann Pitow massive Keilformen direkt am Körper des Modells her, was nicht nur technisch ein aufwendiger Prozess ist, der der Passgenauigkeit geschuldet ist, sondern auch viel Erfahrung braucht bezüglich Gewicht und Schwundeigenschaften des Gipses. Denn all diese Einzelformen müssen zum Ausgießen fugenlos verbunden und auf den Kopf gestellt werden.
Die fertige Plastik bringt den Betrachter dann in eine seltsame Ambivalenz, nicht nur durch die materielle Verfremdung, sondern durch die körperhafte Realitätsverbindung, wodurch eine Melancholie des Zurücklassens sich aufdrängt, dieses abgelebten Zustands nämlich, der nun außerhalb der fortschreitenden Zeit ein zeitloses Exempel statuiert.
Die umschließende Außenform könnte man sich auch durchsichtig in Glas gegossen vorstellen, sodass sich die Figur im Hohlraum innen selbst durch Licht und Schatten bildet. Jedoch: Für aufwendige Entwicklungen gibt es hierzulande kaum einen Markt. (Auch wenn das eine authentische Möglichkeit wäre, sich ein Denkmal in der Fülle seines Lebens zu setzen). Jedenfalls zieht der nicht arbeitsteilig organisierte Bildhauer seine Kreise wie ein letzter Mohikaner.
Deshalb geht ja auch im internationalen Kunstbetrieb die Lust am Machen immer mehr flöten. Aber eine Arbeitsethik entsteht nur im konkreten Arbeitsprozess, nur bei ihm gibt es die Möglichkeit, im Nachjustieren am Konkreten eine Verbindung zwischen Vision und Realisation sichtbar zu halten. Wenn also z. B. ein Jeff Koons nach einem Foto einen Grödner Schnitzer die Figuren schnitzen lässt, so sammeln beide keine neue Erfahrung.
„Man muss in das Motiv hineingehen"
Erläutert Hermann Pitow Intention und Arbeitsprozess seiner Malerei, so meint er das Hineingehen ins Motiv ganz konkret und bezeichnet damit das Aufspüren des wesenhaften Schlüsselmoments, aus dem heraus sich die sinnliche Wahrnehmung mobilisiert. Er „geht" so durch die Leinwand mit Farbe und überführt dabei die Fläche langsam ins Plastische und schafft Raum für einen Kern hinter den zivilisatorischen Überlagerungen, denn letztlich ist der Mensch für ihn - ebenso wie die Natur - auf sich selbst gestellt. Bewegung ist eines der Schlüsselwörter in unserem Gespräch. Gemeint ist damit einerseits die Bereitschaft der Bewegungsapparatur, sich über Gelenke zu drehen und zu verändern, wie auch das Einrasten in exemplarischen Ruhestellungen, wobei diese Ruhephasen nicht ein fotografisches Einfrieren der Bewegung zeigen sollen, sondern ein Rasten und Einrasten, ein Zu-Ende-Kommen und Atemholen für neue Bewegung. Und auch Appelle sind ihm Bilder: an das Sehen des Auges, das Hören und Schmecken - also gedacht für den direkten sinnlichen Dialog, ohne vorgefertigte Verstellungen.
Die Zuständigkeit für alles Plastische
Die Anwendung unterschiedlichster Techniken zwingt Hermann Pitow automatisch zum Experiment, zur Umdeutung von Fundgegenständen ebenso wie zur Ausreizung von Materialmöglichkeiten, zur Anpassung von Materialien an konkrete Baugegebenheiten und Problemstellungen. Denn natürlich gibt's von Hermann Pitow auch Brunnen im öffentlichen Raum, Tore, Lampen, Leuchten ...
Gleich beim Eingang zu seinem Refugium erwarten den Besucher Figuren - überdimensionale Hände und Fäuste - und das Eingangstor selbst könnte eine moderne Fassung von Rodins Höllentor sein: Verschweißte Fließgüsse entfalten figurale Lebendigkeit, bei dem der Blick immer wieder neue Verbindungen assoziiert, ohne zur Ruhe zu kommen.
Hermann Pitow sucht aber auch die pragmatische Herausforderung des Bildhauerberufs, die ganze Palette plastischer Einsatzmöglichkeiten. So hat er vor einiger Zeit seinen „Ursteirer" entwickelt: einen rustikal steirischen Typus, adaptierbar für Produktwerbung, Stadt- und Landmarketing, Maskottchen und T-Shirt-Botschafter, der für Bruck das Kornmesserhaus trägt, aber auch mit der ganzen Steiermark in Händen gibt es ihn und in etlichen weiteren Varianten. Dafür muss man Logistik entwickeln, formtechnisch ebenso wie man in China oder in Ungarn nach günstigen Vervielfältigungsmöglichkeiten sucht.
Das Leben des Bildhauers spielt sich nicht im Elfenbeinturm ab, aber: „Mir ist ganz wichtig", sagt Hermann Pitow, „dass man zu dem steht, was man sagt, und das verantworten kann, was man tut." - Mich hat‘s jedenfalls sehr beeindruckt, in Hermann Pitow einen Bildhauer zu treffen, der sich über das ganze Spektrum seines Berufs definiert, nämlich über die völlige Zuständigkeit für alle plastischen Aufgabenstellungen.
www.pitow.com
Erwin Michenthaler
Stand: September 2015