Wurzeln, Stamm und Kunst-Zweigerln (*)
„Letztlich bin ich ein ernsthafter Mensch, der ernsthafte Dinge anstrebt.“
Wie die meisten Bildhauer bietet der Grazer Erwin Michenthaler mit seinen Werken immer etwas zum Angreifen. Und das gilt selbstverständlich (!) auch für dessen Malerei - die Betrachter bekommen das Gefühl, etwas haptisch erfahren zu dürfen und wollen mit der ganzen Hand hineingreifen ins Bild. Wollen der Göttin an der Supermarktkasse zur Hand gehen oder bewundernd die Muskeln des Alltags-Tarzans befühlen. Ganz anders scheint es sich mit den Gedanken des Erwin Michenthaler zu verhalten - mitunter scheinen sie mitten im Gespräch fortzufliegen, man kann sie dann zwischendurch beim Herumhüpfen auf verschiedensten Geistesgipfeln wieder ausnehmen. Dabei ist Erwin Michenthaler, geb. 1956, keiner, der sich komplizierte Konstrukte selbst webt, sondern ein Künstler, der sich stark mit der Tradition befasst, mit dem Stamm, der zusammen mit den Wurzeln den Ästen und Zweigen Halt und Nahrung gibt. „Wir haben heutzutage lauter Zweigerln; der Stamm fehlt", kritisiert er Zeitgenossen, die scheinbar das, was an Kunstgeschichte da ist, ignorieren. „Viele sind aber auch nicht ehrlich, weil: Natürlich will man sich vor den Toten beweisen", weiß Michenthaler. Michelangelo, Goethe, Schiller, Nietzsche; all jene, die Großes hervorgebracht haben, fließen ins Gespräch mit ein, denn: „Wofür lebt man?! Es ist wie eine Trotzreaktion dem gegenüber, dass man nur ein Zeitfenster zur Verfügung hat - das Kreieren von sinnvollen Handlungen" - DAS ist des Künstlers Ziel.
Die intensive Beschäftigung mit der Kunstgeschichte ist auch wichtig für seine Arbeit mit Kindern und Jugendlichen: In zahlreichen Kunstprojekten mit vor allem 10- bis 17-Jährigen (BORG Bad Radkersburg, BORG Deutschlandsberg u. a.) wird gehämmert, gefeilt und geklopft, werden Raumkonzepte erarbeitet und Ausstellungen organisiert. Punkto Ausbildung entschied sich der gebürtige Leobner für die Kunstgewerbeschule in Graz und landete „eher zufällig" bei der Bildhauerei. In einem Buch las er, das 20. Jahrhundert sei eher arm an großen Bildhauern, und das bedeutete für ihn: „Da muss man was machen!" Er durchlief drei Phasen, die viele kennen: Von „Ich will was Großes machen" über die, wie er es nennt, resignative Phase „Es ist alles schon dagewesen" bis hin zur wichtigen Erkenntnis: „Das Einzige, das noch nie dagewesen ist, bin ich selber!"
Der Grund dafür, dass er mehr malt als Steine klopft, ist schlicht und ergreifend Platzmangel. Und durchaus auch die Tatsache, dass man für eine Skulptur eben mehr Zeit am Stück braucht als für ein gemaltes Bild. Ein Bildhauersymposion, wie das „Mysterium Königsberg" 2010 war für ihn ein guter Platz dafür, meditativ nach einem genauen Konzept zu arbeiten - insgesamt seien aber auch diese intensiven Tage mit Muschelkalk, Hammer und Meißel zu wenig für die Bildhauerei. Seine Malerei, die sehr dynamisch und zügig entsteht, misst er an der Bildhauerei: „Beim Malen muss ich es so weit bringen, dass es in Holz und Stein auch stimmig wäre." Das Vordergrund-Hintergrund-Spiel reizt ihn dabei sehr; nicht als Vexierbild, aber Michenthalers Kunst soll nach und nach Neues offenbaren - „ich möchte viele Dinge, die ich weiß, einbauen, und das soll nicht auf den ersten Blick sichtbar sein". Dabei verwendet er „wie aus Trotz" drei Grundfarben sowie Schwarz und Weiß und beschäftigt sich mit der Menschendarstellung. Auch Comic und das Plakat sind Kunstformen, denen Michenthaler, der übrigens auch bei einer Werbeagentur textet, sich verschrieben hat: „Comic ist die einfachste und rascheste Form, etwas auf den Punkt zu bringen". Ein markantes Motiv, zwei Wörter - und schon knallt es im Hirn. Dabei kann es schon zu seltsamen Konstellationen kommen, wie Old Shatterhand (Landvermesser!) und der Kafka-Käfer (Landvermesser K. aus Kafkas Roman „Das Schloss"), die gemeinsam das Land vermessen ...
„Letztlich", fügt Erwin Michenthaler fast beruhigend hinzu, „bin ich ein ernsthafter Mensch, der ernsthafte Dinge anstrebt". Das können wir ihm getrost glauben.
http://kultur.graz.at/v/michenthaler.erwin.html
Claudia Rief-Taucher
März 2012
*Update: Ein Nachruf
Erwin Michenthaler ist im August 2019 im Alter von 63 Jahren an den Folgen einer schweren Erkrankung verstorben.
Retrospektiven im Steiermarkhof und im ORF Funkhaus Graz zeugen von der großen Wertschätzung, die ihm als Künstler entgegengebracht wurden. „Michenthaler war eine Ausnahmeerscheinung. Er hat nie an der Oberfläche gekratzt, und es war für ihn wichtig, dass er immer in die Tiefe geht", sagte Künstlerfreund Herbert Soltys anlässlich der Ausstellung im ORF im Herbst/Winter 2019/2020. Und Schul- und Künstlerfreund Willi Rast fügte an: „Der Erwin war für mich seit der Ortweinschule ein Künstlerkollege, der mich ständig gefordert hat."
Erwin Michenthaler war ein Vielbegabter und als solcher auch ein wortgewaltiger Streiter für die Kunst. Für die ARTfaces hat er seine künstlerischen Überzeugungen und sein großes Wissen, vor allem aber sein Feuer in zahlreiche Porträts eingebracht. Er fehlt auch uns.
ARTfaces-Redaktion