„Ich war Beuys-Schüler bei Humboldt“ (*)
Karl Grünling geht es um künstlerische Bewusstseinsbildung.
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Jemand, der aussieht wie Karl Grünling, kündigt vor Publikum den Auftritt Karl Grünlings an: "Karl Grünling wird Ihnen jetzt eine seiner Sekundenaktionen vorführen, und er wird jetzt gleich kommen." Und tatsächlich tritt sogleich Karl Grünling auf. "Das ist gar nicht so schwierig, denn gewissermaßen ist er ja schon da", erklärt mir Karl Grünling im Gespräch das Einleitungs-Prozedere seiner seit 2003 praktizierten Sekundenaktionen. Nach kurzer Konzentrationsphase zeigt der sich selbst darstellende Karl Grünling dann zumeist einen höchst banalen, vorzugsweise blauen Gegenstand und sagt eine Sentenz auf oder stellt eine Frage wie: „Wie sinnlos ist es, Vorstellungen von Sein und Nichtsein auf ein unfassbares Wirklichkeitskontinuum zu projizieren?" - Das war's dann auch schon wieder und hat nicht wehgetan, zurück bleibt im Allgemeinen das nicht unerheblich verunsicherte Publikum. Genau dieser Effekt ist angestrebt: "Innerhalb höchstens einer Minute durch eine absurde Handlung das Denken auszuschalten, um damit vielleicht einen Erkenntnismoment zu provozieren." Noch kompakter legte Grünling eine Sekundenaktion in der 03-Bar an, indem er eine blaue Seifendose öffnete und dazu „leer" sagte. Inzwischen führte er an die fünfzig Sekundenaktionen aus, die keine Titel tragen, aber nach Belieben von ihm selbst oder anderen nummeriert werden können.
Als er mit 16 Jahren aus Steyr nach Graz kam, fand er sich bald im Kreis von einigen „Grazer Lokalliteraten" und begann Gedichte zu schreiben. In der Folge "bin ich auch mit bildender Kunst konfrontiert worden, die in meinem Leben bis dahin überhaupt keine Rolle gespielt hatte." Vielmehr, erzählt er, hätte er bis dahin gar nicht gewusst, dass es bildende Kunst gibt. Technisch waren die Freunde aus dem akademischen Umfeld „aber so gut, dass ich mir gedacht habe: 'Das wird bei mir nix, da habe ich keine Chance'.“ Irgendwie sei er daraufhin in den Underground abgetaucht.
Weil sich aber der kreative Drang als so stark erwies, begann er Graffiti anzubringen, "von denen es heute zum Glück keine mehr gibt." Es folgte eine Reihe von "‘Kartonagen' in Ermangelung ausreichender Kohle für edles Material", stark beeinflusst von Kurt Schwitters' Reliefarbeiten und dessen disziplinübergreifender Arbeitsweise zwischen Malerei und Dichtung. "Danach wurde ich - via Fernkurs bei Humboldt - zu einem Schüler von Joseph Beuys." Der Fernkurs ist natürlich Fiktion. Wirklich dagegen habe ihn nicht eigentlich der Schaffensprozess bei Beuys interessiert, vielmehr ist es das groß angelegte ästhetische Konzept, das Leben und Welt des Menschen als Werk auffasst, an dem jeder mitwirkt. Kunst wird so zur „Verwirklichung von Freiheit" (Beuys) und "eigentlich geht es um Bewusstseinsbildung, während der das physische Kunstwerk sekundär ist“ (Grünling).
Nach seiner Karriere als Gründungsmitglied des legendären Grazer Vereins FOND und nach dessen Auflösung im Jahr 1998 gründete Grünling im Jahr 2000 aUtOnOmE tRaNsPoRte. "aUtOnOmE tRaNsPoRte ist mein Einmann-Zuckerlgeschäft - das kannst du auch so schreiben -, nachdem ich es bisher nicht geschafft habe, im Grazer, geschweige denn internationalen Kunstmarkt wirklich Fuß zu fassen. Unter aUtOnOmE tRaNsPoRte transportiere ich mich einfach selbst, beispielsweise zu Ausstellungen, wofür ich mir Räume suche."
Seine Sammlung verschiedenster Stempel verwendet er als "Druckmittel", mit denen er Musterblätter gestaltet. Aufgrund des dominant formalen beziehungsweise ornamentalen Charakters dieser Blätter scheint jeder Informationsgehalt eliminiert zu sein, "was ja nicht stimmt, weil hier, wie im richtigen Leben, Überinformation eben zu Nullbotschaften führt." Und das wiederum ist veranschaulichte Informations- und Kommunikationstheorie.
Anlässlich des 20. Todestages von Joseph Beuys gab Grünling 2006 mehrere Performances in seinem Atelier unter dem Titel "Mein Beuys ... Wie man dem blauen Hasen die Bilder erklärt", angelehnt an "Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt" (Berlin 1965). Den Kopf mit blauem Isolierband verklebt, nur eine kleine Mundöffnung blieb frei - Beuys selig hatte Blattgold verwendet -, erklärte er vor Publikum, das er nicht sehen konnte, einem dem Dürerhasen nachgebildeten Kunststoffding die Malerei von Karl Grünling, den Grund, warum der Hase gerade jetzt an diesem Ort diese Prozedur über sich ergehen lassen muss, und Karl Grünlings Verhältnis zu Joseph Beuys.
Wenn Beuys eine Zeitlang von irgendwelchen Agenten der Scharlatanerie bezichtigt worden war, war angesichts dieser Performance von Karl Grünling jedenfalls keine Spur von Misstrauen bei den Zusehern auszumachen. Im Gegenteil herrschte konzentrierte Stille und Aufmerksamkeit, der Akt glich einer quasi sakralen Situation, die Grünling souverän bestimmte.
Wenzel Mraček
Dezember 2007
*Update 2023: Aneignung von Kunst – Entdecken von Kunst, wo keine ist
Der Systemkünstler Karl Grünling betreibt regelmäßig Kunstvermittlung aus seiner eigenen Perspektive bei Messen, Performances, geführten Spaziergängen, Ausstellungen und im öffentlichen Raum. Diese Kunstvermittlung muss nicht unbedingt mit den Absichten der Künstler*innen übereinstimmen. Das Aufladen von scheinbar banalen Objekten oder Zusammenhängen mit Bedeutung zieht sich durch sein Werk, das fröhlich, bunt und flockig, aber trotzdem auch konzentriert und intensiv daherkommt.
Ausstellungen
- 2008: Blau führt zum Tod, remixxgalerie Günter Eisenhut, Bilder und Collagen zu Sekundenaktionen. Mit den Sekundenaktionen wurden kurze Momente geschaffen, die das Denken ausschalten, um eine Erkenntnis zu provozieren.
- 2010: Space in the Spirit. Aktion im steirischen herbst.
- 2011: Monobleuartgifts (The Dummy Festival), Saint Charles Complementary, Wien
- 2011: Wir sind Bettler, Stadtmuseum Graz.
- 2013: Leer, aber nicht voll: Die paradoxe Darstellung der Inhaltslosigkeit der Dinge, im Forum Stadtpark Graz mit einer 24-Stunden Aktion zur Eröffnung.
- 2017: A Glimpse of the Concealed, Museum aan de Stroom, Antwerpen.
- 2012 bis 2018: GrazRenaissanceMuseum. In diesem Museum wurde das gesamte Frühwerk von Karl Grünling gezeigt. Das ehemalige Schlüsselgeschäft im Herz-Jesu-Viertel war nach Vereinbarung zu betreten und rund um die Uhr durch das Schaufenster einsehbar. Es wurden Werke seit 1990 zusammengefasst und neu installiert. Hier fanden Aktionen wie "Fly the Flux" statt, u. a. der Zyklus: "Neue Beizen, alte Welten". "Im Prekariat wurde der Raum aufgeladen und dann übernommen für eine der bedeutendsten steirischen Sammlungen der Gegenwartskunst" (Karl Grünling).
- 2019: Panopticum. The Austrian Maze, Artspace Morakutti - Fondamenta San Gioachin, Venezia.
- Seit 2008 finden vier bis fünf Gedenkaktionen zu Ehren von Josef Beuys statt, gemeinsam mit Manjuscha +-. Es gibt auch limitierte Posteraktionen, z. B. 24-Stunden-Sauerkrautanimationen als Anlehnung an die Sauerkrautpartitur (1969) von Beuys.
Aktuelle Arbeiten und Zyklen
- Seit 2015: Antennen. Das Werk besteht aus verschiedenen terrestrischen TV-Antennen auf Hausdächern. Viele davon werden nicht mehr genutzt. Diese Antennen aus der prädigitalen Zeit, die jetzt eigentlich keinen Mehrwert mehr haben, hat Grünling zur weltgrößten Außenplastik erklärt: "Ich habe über die Zeit immer versucht, unbrauchbaren Gegenständen neuen ästhetischen Gewinn zu verleihen. Durch den rein geistigen Akt des Erklärens entsteht ein neuer Eindruck." Optisch arbeiten Antennen mit Vertikalen und Diagonalen. Das ist unter anderem eine Referenz an die Höhlenmalerei, wo etwas geritzt wurde, um eine Botschaft zu vermitteln. Die Antennen stehen für den Künstler auch für die Beeinflussung unserer Kultur durch die Informationskultur wie das Fernsehen, die in dieser Form jedoch schon veraltet ist. Teil des Projekts ist das Versenden von Kunstzertifikaten an die Kulturstadträt*innen, damit sie schriftlich haben, dass es sich um Kunst handelt. Durch die Kunst werden die Antennen geschützt und können nicht entfernt werden.
- Seit 2010: 2th Art ist ein nicht vollendetes Langzeitkonzept, bei dem Materialien und Werke von prominenten Künstlerkolleg*innen zum eigenen Werk in eigens errichteten Räumen arrangiert werden. Dahinter steckt immer eine spannende Entstehungsgeschichte, die nicht verraten wird. Karl Grünling eignet sich diese Elemente an, greift jedoch nicht ein.
- Laufend: Vulkan-Serie, Holzbeize auf Panzerkarton/Finnpappe. Die bunten, sanft abstrakten Arbeiten beschwören die "eruptive kreative Kraft des Seins". "Wir sitzen auf einem Feuerball, der brodelt und an diversen Stellen austritt." Ich verbinde es mit der kreativen Kraft der Menschheit, aber auch mit Zerstörung und den damit verbundenen Bedrohungsszenarien. Die größte Produktion ist immer noch die Waffenproduktion. "Die große Frustration des Menschen ist, dass er das große kreative Potenzial nicht ausleben kann und aufgrund von kulturellen Verhältnissen beschränkt ist." (Karl Grünling)
Sammlungen: „WOHIN ES AUCH GEHT, DU BIST DABEI".
Werke sind in privaten Sammlungen sowie in der Oberösterreichischen Landesgalerie, Neuen Galerie Graz und im Stadtmuseum Graz sowie in der Wirtschaftskammer Österreich zu finden.
Publikationen
- uncurated. Unbefugte Interventionen im Grazer Stadtraum, herausgegeben von Elisabeth Fiedler, Joachim Hainzl & Alexandra Riewe, September 2020.
- 2011: Aichbergiana. Handreichungen zum Alltag, Heft 12: Blau führt zum Tod, Materialien zum aufgeklärten Aktionismus.
- 2011: Rückblende: Die Fotosammlung der Neuen Galerie Graz. Von Karin Buol-Wischenau (Autor), Peter Peer (Autor), Christa Steinle (Autor).
- 2012: Katalog für studio1.4 in Graz und Wien.
- 2017: A Glimpse of the Concealed. body - intuition - art, Expo: MAS, Antwerpen, Paul van den Broek mit einem Essay von Pé Vermeersch.
- 2022: Die ersten 13 Jahre. Schaumbad Graz, hg. von Eva Ursprung und Alexandra Gschiel.
Lydia Bißmann
September 2023