Die Morde von Juárez (*)
Bernadette Maria Schiefer schreibt Sätze mit Stacheln
Seit 1993 dauert die Mordserie in der nordmexikanischen Industriestadt Ciudad Juárez an, der bereits Hunderte junge Frauen und Mädchen zum Opfer gefallen sind. Nur wenige der Verbrechen wurden aufgeklärt. Journalisten, Anwälte werden zum Schweigen gebracht, erschossen, die Opfer sind scheinbar rechtlos, ihr Leben hat keinen Wert in dieser Welt, wo die Täter auf der Seite der Macht stehen. „Verschwunden. Oder: Mädchen von Juárez" nennt sich das jüngste Stück von Bernadette Schiefer. Es nähert sich dem Grauen frontal, mit einer direkten Sprache, die kein Entkommen kennt, die den Schmerz beim Namen nennt. Da sind Sätze, die einen Stachel haben, Bilder, die ganz ungeschminkt Betroffenheit wollen.
Nach Jahren erst sind die Frauenmorde in Ciudad Juárez auch in Europa bekannt geworden. Insbesondere, als sich Hollywood des Themas angekommen hat: „Bordertown" mit Antonio Banderas und Jennifer Lopez. Schiefer kennt die Geschichte nicht aus dem Kino. Sie war mehrfach und lange in Mexiko, hat ein Buch über Menschenrechtsverletzungen an Frauen in Oaxaca übersetzt, sich mit den Zapatisten solidarisiert und das Land zur Menschenrechtsbeobachtung bereist, am Institut CIRMA war sie an Forschungen zum Grenzkonflikt Mexiko/USA beteiligt. Ciudad Juárez ist eine Grenzstadt, ein strategisch günstig gelegener Billiglohnstandort, an dem sich Konzerne aus aller Welt ansiedeln. Die Stadt ist in jüngster Zeit gewachsen wie kaum eine andere, besonders die Armenviertel. Wer hier Macht hat, baut sie auf Geld aus Europa und den USA.
Über die Menschen, die meinen, das, was dort passiert, habe nichts mit uns zu tun, kann Bernadette Schiefer sich nur wundern. Aber der eingespielte Literaturbetrieb und Texte, die geschrieben werden, um von Kritikern besprochen zu werden, interessieren sie ohnehin nicht. „Meine Vision von Theater ist, dass es die Leute verstört, dass es ihnen die Möglichkeit gibt, nach einer Aufführung z. B. zornig rauszugehen. Wie bei Cassavetes. Mein Anspruch als Künstlerin ist, dass ich selbst leer werde, dass es nicht mehr um mich geht, dass man als Schreibende zu einer Art Werkzeug wird. Das ist wie bei guter Musik, da interessiert mich auch nicht, wer dahintersteckt, und trotzdem betrifft sie mich."
Ältere Arbeiten von Schiefer, wie ihr Debüt „Reise mit Engel. Nirgendwohin" haben mehr mit der scheinbar vertrauten österreichischen Lebensrealität zu tun, mit dem Innenleben von WG-Bewohnern, den Sehnsüchten Suchender, den Irrwegen einer literarisch vielfach verhandelten Adoleszenz. Inzwischen hat die 28-jährige Schiefer in Lateinamerika mit behinderten und unterernährten Babys gearbeitet, sie hat auch Radiosendungen gemacht (in Graz) und fotografieren gelernt (in Graz), sie war an Kunstprojekten beteiligt (zuletzt im steirischen herbst 2006 zusammen mit dem Radiokollektiv LIGNA) und hat mit Dieter Boyer und UniT an mehreren Stückentwicklungen mitgewirkt. Dem Theater will sie treu bleiben. Doch zunächst wird sie wieder aufbrechen. Nach Südamerika. Mit einem Stipendium in der Tasche. Ein literarisches Tagebuch schwebt ihr vor. Wann wir daraus lesen werden können, weiß Bernadette Schiefer noch nicht.
Hermann Götz, Dezember 2007
Bogotá. Das ist der Name der Hauptstadt Kolumbiens, auf Grund der Wirtschafts- und Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ländlichen Raum eine der am schnellsten wachsenden Metropolen Südamerikas, deren Bevölkerung zu großen Teilen in den Elendsvierteln der urbanen Peripherie lebt. Bogotá. Das ist auch der Name jenes Theatertextes von Bernadette Schiefer, der 2010/2011 für den Retzhofer Dramapreis im Auftrag der Kulturinitiative UniT entstanden ist. Die Dramatikerin scheint sich treu zu bleiben - thematisch, geografisch. Privat hat es 2010 mit der Geburt ihres Sohnes eine Zäsur im Leben Bernadette Schiefers gegeben. Was bis dahin geschah? Das oben genannte Stipendium führte Schiefer nach Oaxaca, Mexiko, wo sie von Februar bis Juli 2008 lebte, im Dezember 2008 wurde „Disappeared", das Stück über die Frauenmorde in Mexiko, im Schauspielhaus Graz präsentiert, im selben Jahr kam auch das Drama „Licht sprechen (Rumi says)" im Rahmen der „regionale 02" in Zusammenarbeit mit ISOP in Feldbach zur Aufführung. 2010 folgte „Brunnen. Mauer. Blut.", ein Stück über eine indigene Frau in Oaxaca, Mexiko, die sieben Jahre lang unschuldig inhaftiert war, sowie „Bad Reputation. Digna", über die Menschenrechtsanwältin Digna Ochoa.
Bernadette Schiefer hat inzwischen außer dem Förderungsstipendium für Literatur, Graz (2008) auch das Start-Stipendium des BKKA (November 2009 bis März 2010) erhalten, ihre letzen Arbeiten neben und nach „Bogotá" sind „Warte auf uns." (Kurzgeschichten), „Geheimes Leben." (Gedichte) und „deliberatrix oder die verwirrung der bienen" (ein Drehbuch).
Werner Schandor, Februar 2011