Poesie und Präzision
Anaïs Horn will in ihren Arbeiten vor allem eins: Unmittelbarkeit und Intimität herstellen. Sie erlaubt mit ihren multidisziplinären Installationen und Künstler:innenbüchern einen Blick in privat anmutende Sphären, die immer auch politisch sein können. Dafür arbeitet sie oft installativ mit Fotografie und Video, Sound und Text, Malerei und Zeichnung, Interieurs und zuletzt sogar Duft.
Inspiration und Ausgangspunkt für ihre künstlerischen Erzählungen sind oft persönliche Textformen wie Briefe oder Tagebücher, mythologische Erzählungen oder Räume und Orte mit Erinnerungen und Geheimnissen. Dafür bedient sie sich persönlicher Narrative, die - manchmal auch autobiografisch - weibliches Erwachsenwerden, Übergangsriten oder Biografien historischer (weiblicher) Figuren erforschen, wie z. B. der Autorin Anaïs Nin, der Malerin Carol Rama, der Prinzessin Charlotte von Belgien. Sanft, aber innig, direkt, aber mit viel behutsamer Distanz erzählt sie in ihren Arbeiten Geschichten von Liebe, Angst, Schmerz, Hoffnung und dem Zurechtfinden im Leben allgemein. Häufig führt sie Elemente der Illusion und des Geheimnisses ein, die ihre Arbeiten in einem Raum des Dazwischen verorten.
Fragilität und Körper
Mit einem Diplom in Communication Design (FH Joanneum) und einem Teilstudium der Germanistik absolvierte Anaïs Horn 2015 die Schule für künstlerische Fotografie Friedl Kubelka in Wien. Mit Sorgfalt und Präzision verbindet sie in ihren Arbeiten poetische Themen, Kollaborationen mit anderen Künstler:innen und die Liebe zum Buch, das ein wichtiges Medium für ihre Praxis darstellt. Für „Fading" (DCV, Berlin, 2020) setzte die Künstlerin ausgehend von Roland Barthes' „Fragments d‘un discours amoureux" (Fragmente einer Sprache der Liebe) fotografische Interpretationen seiner Begriffe um. „Die Hand voller Stunden, so kamst du zu mir" (Edition Camera Austria, Graz, 2021) entlehnt seinen Titel aus einem Gedicht von Paul Celan. Die Publikation erschien zu Horns erster Solo-Ausstellung bei Camera Austria 2021 und inszeniert die Hand als Inbild von Zuneigung, Fürsorge und nonverbaler Kommunikation. Ausgehend von Fotografie und historischen Referenzen schuf die Installation ein multimediales Ensemble, das Spannungen zwischen häuslichem Interieur und Ausstellungsraum erzeugt.
Für ihr erstes Künstler:innenbuch „Je suis malheureuse et heureuse" (Meta/Books, Amsterdam, 2020) kombinierte sie Originalmanuskripte aus den zwischen 1919 und 1920 verfassten Tagebüchern der damals 16-jährigen amerikanisch-französischen Autorin Anaïs Nin mit Porträts und Videos von weiblichen Teenagern, mit denen sie von 2017 bis 2018 in ihrem Pariser Studio an der Cité des Arts arbeitete, sowie Tagebüchern aus dem Jahr 2006, die von der damals ebenfalls 16-jährigen amerikanischen Poetin und späteren Harvard-Politologin Jackie Wang stammen. So schließt sie die zeitgenössische Klammer um Nins Texte und spannt einen Bogen über 100 Jahre weibliches Erwachsenwerden.
Andere Zustände der Linearität untersucht die Installation „How do you feel about ‚Lou‘"? (Galerie Sophie Tappeiner, 2020; Forum Stadtpark, Graz, 2022). In dem kollaborativen Projekt arbeiten Horn und ihr Partner, der norwegische Maler und Musiker Eilert Asmervik, anhand von Fotografien, Gemälden, Videos, Zeichnungen, Skulpturen und persönlichen Gegenständen Themen wie Schicksal, Lebensplanung, ungeplante Schwangerschaft und Fehlgeburt ab, denen sich beide gleich zu Beginn ihrer Beziehung stellen mussten. Für das gleichnamige Künstler:innenbuch (Meta/Books, Amsterdam, 2020, 2. Aufl. 2021) verweben die beiden das Material aus jener Zeit mit Textbeiträgen von zehn zum Thema geladenen Künstler:innen und Autor:innen wie Anna Gien, Irmi Horn, Laura Schawelka, Andy Schuhmacher oder Verena Walzl.
Geister, Perspektiven und Untergründe
Videos von schwebenden, transparenten Planen im Garten des Schlosses Miramare, in antike Rahmen gefasste, auf Spiegel gedruckte Fotos von toten Winkeln und geisterhaften Reflexionen im Schloss-Interieur, Zeichnungen und eine von Asmervik gestaltete Soundscape, dem Estelle Hoy ihre Stimme leiht, erzählen in „Longing Ghosts in Deep Blue Paranoia" die tragische Geschichte der Charlotte von Belgien. Einsamkeit, Paranoia und psychische Krankheit durchzogen das Leben der Ehefrau des in Mexiko durch eine politische Intrige zu Tode gekommenen Kaisers Maximilians, die ihren Mann um 50 Jahre überlebte. Der Werkkomplex entstand während Horns künstlerischer Triest-Residency 2021 und wurde erstmals 2022 bei MLZ Art Dep in Triest präsentiert. Mit der Parfümeurin Pauline Rochas entwickelte sie dafür eine Komposition aus toxischer Betörung (die Prinzessin lebte in ständiger Angst, vergiftet zu werden), dem Duft des Meeres und dem Geruch von alten Räumen - die olfaktorische Komponente der Installation, die inzwischen international mehrfach in ortsspezifischen Umsetzungen gezeigt wurde: zuletzt in der RGR Galerie in Mexiko City. Die gleichnamige Publikation wurde 2022 in Horns eigenem Verlag Drama Books, Paris, veröffentlicht und bei Printed Matter, New York City, gelauncht.
Während hier noch Fotografie und Zeichnung/Malerei nebeneinander existieren, beginnt Horn während ihrer Residency am ISCP in New York im Herbst 2022 Fotografie und Malerei direkt zu verbinden. Für die 2023 für eine Duo-Ausstellung mit Werken aus dem Nachlass der 2015 verstorbenen italienischen Künstlerin Carol Rama entstandenen Werkserien „Ghost Monologues" und „Per Carol" arbeitet Horn mit Ölfarben direkt auf mit Fotos bedruckten Leinwänden. Gegenstände aus Carol Ramas Turiner Wunderkammer und Motive aus ihren Werken legen sich als geisterhafter Layer über die Stillleben aus Horns Apartment. Dazu kombiniert sie dänische Architektenlampen, die Carol Rama ebenfalls sammelte, skulptural mit anderen Objekten aus Ramas Sammlung.
Für Horns aktuelle Arbeit „The Windows", die sie in einer Einzelpräsentation mit MLZ Art Dep bei der Mailänder Miart im April 2024 präsentiert, greift sie erneut ein Motiv auf, das in ihren Arbeiten häufig wiederkehrt: das Fenster als Transmitter zwischen privatem und öffentlichem Raum. Stills aus Drohnenvideos, mit denen sie sich selbst durch die Fenster ihres New Yorker Apartments im 20. Stock aufnahm, werden auf Glas gedruckt und installativ mit gemalten Seidenvorhängen und Fensterrahmen inszeniert. Dazu entwirft Horn ein eigenes Interieur aus bedruckten antiken Teppichen, bemalten Poufs und Lampen. Die ungewohnte Perspektive der Videostills in Kombination mit der Zartheit der Stoffe vermittelt Einsamkeit und Fragilität und erinnert ein wenig an die stillen Szenen der Großstadt von Edward Hopper. Gewidmet ist diese Arbeit jedoch Hoppers Ehefrau Jo, selbst Künstlerin, die im Schatten ihres Mannes chancenlos war und deren Werk heute vergessen ist. „Self Portrait as Josephine" greift Elemente aus berühmten Porträts von Josephine Hopper auf und versucht durch deren Verfremdung Momente des Déjà-vu zu generieren.
Pariser Verlag und Stipendien
Anaïs Horn lebt seit 2017 in Paris, wo sie gemeinsam mit der koreanischen Kreativdirektorin Bpah Kim im Jahr 2022 den Verlag Drama Books gründete. Seit 2023 betreibt sie mit ihrem Partner, Eilert Asmervik, mit dem sie auch regelmäßig in ihren Projekten kollaboriert, den Artist-Run-Space „Cabanon". Als Fondazione Europa arbeitet sie gemeinsam mit Alexander Nussbaumer als Kreativdirektorin und Grafikdesignerin für internationale Kunden im Kunst- und Kulturbereich. Ihre Arbeiten waren in Einzel- und Gruppenausstellungen unter anderem in der Camera Austria, Graz; Paris Photo, Curiosa Section, Paris; MAK Museum of Applied Arts, Wien; Galerie RGR, Mexico City; MLZ Art Dep, Triest; P.A.D., New York City; Neue Galerie, Graz; Forum Stadtpark, Graz; Galerie Sophie Tappeiner, Wien und im Kunsthaus Muerz zu sehen. Im Jahr 2023, zum fünften Geburtstag des Programms Elles, das weiblichen Fotografen gewidmet ist und vom französischen Kulturministerium in Kollaboration mit Paris Photo ins Leben gerufen wurde, wurde Anaïs Horn in den Kanon von 130 zeitgenössischen Fotografinnen für die Jubiläumspublikation aufgenommen. Stipendien und Residencys führten sie nach New York City (ISCP International Study and Curatorial Program 2022), Triest (AiR Trieste 2021), Paris (Cité Internationale des Arts 2019 und 2021) und Plowdiw (FLUCA Austrian Cultural Pavillon 2019).
Im Jahr 2024 wurde ihr das österreichische Staatsstipendium für künstlerische Fotografie verliehen, und das Land Steiermark ermöglicht ihr mit einem Atelier-Auslandsstipendium den künstlerischen Aufenthalt in Rom bei CASTRO Projects.