Kinderbücher und Tabu-Themen
Die Grazer Kinder- und Jugendbuchautorin Anna Lisa Kiesel nähert sich der 20-Bücher-Grenze. Dabei veröffentlicht sie erst seit drei Jahren. Mit ihren Geschichten will Anna Lisa Kiesel junge Menschen unterhalten und ihnen Worte dafür geben, was in der Welt geschieht.
„Es ist lustig in Volksschulen zu lesen und die Jahrgänge zu bespaßen. Da weiß ich wenigstens, für wen ich das Ganze mache", sagt die Kinderbuchautorin Anna Lisa Kiesel. „Wenn du allein zu Hause ein Buch nach dem anderen schreibst, und das einzige Feedback kommt von der Agentin und den eigenen Kindern, dann ist das zwar schön, aber nicht genug. Daher lese ich wirklich gerne vor Schulklassen oder auf Buchmessen."
Anna Lisa Kiesel hat in den letzten drei Jahren 15 Titel in renommierten deutschen Kinderbuchverlagen vorgelegt. Im Sommer 2024 erschien ihr neuestes Buch: „Die Krachbumms - Besuch von Onkel Rabatz", illustriert von Fabian & Christian Jeremies. Die Hauptfiguren sind kleine Flauschmonster, die, um sich unerkannt durch die Welt bewegen zu können, Kinderlärm brauchen. „Die Idee zu diesen Figuren ist mir gekommen, als ich mit meinen beiden Kindern im Bett lag und von links und rechts beschallt wurde", erzählt die Autorin lachend. Anna Lisas Kinder, 2012 und 2013 geboren, inspirieren sie oft zu Geschichten.
Auch eines ihrer ersten Bücher, „Hotel Summ Summ", über ein Insektenhotel geht auf ein Erlebnis mit den Kindern zurück: „Zu Beginn von Corona hat sich eine Hornisse bei uns im Kasten eingenistet, und es war nicht leicht, sie rauszubekommen. Als meine Tochter dann vorschlug, ein Insektenhotel zu bauen - so als Lockdown-Projekt - kam mir die Idee für das Buch." „Hotel Summ Summ" erschien 2022 im Baumhaus-Verlag und wurde von der Bestseller-Illustratorin Daniela Kunkel („Das kleine Wir") illustriert. Kiesel verpackt in ihrem Buch Informationen über die Nützlichkeit von Insekten in eine Geschichte, die Vorschulkinder anspricht.
Ein unveröffentlichtes Manuskript als Türöffner
Der Weg zum Bücherschreiben war für Anna Lisa Kiesel eigentlich vorgezeichnet, es war ihr nur lange nicht klar. Sie liebte es bereits in der Volksschule, zu schreiben und Geschichten zu erfinden, und wurde von ihrer damaligen Lehrerin an der VS Berliner Ring sehr darin bestärkt. Den Dämpfer erhielt sie im Gymnasium, wo man nicht glauben wollte, dass die zehnseitigen Aufsätze, die sie aus dem Ärmel schüttelte, wirklich von ihr stammten. Und so hat es einige Umwege über die Fotografie und die Werbetexterei gebraucht, bis sie sich mit Ende 20 entschloss, Autorin zu werden. Anna Lisa konzipierte ein Jugendbuch zu einem Thema, das ihr sehr naheging, und schickte ein Probekapitel an die deutsche Literaturagentur Hanauer, die auf Kinder- und Jugendbücher spezialisiert ist. „Ich habe gebeten, dass sie mir Feedback geben, ob dieser Text einer ist, den ich weiterschreiben soll." Die Reaktion der Agenturleiterin Michaela Hanauer-Dietmaier war eindeutig: Selten habe sie etwas so berührt wie diese Geschichte. Also schrieb Anna Lisa den Jugendroman fertig und unterzeichnete kurze Zeit später den Agenturvertrag. Das Manuskript blieb dennoch bis heute in der Schublade. „Es ist schwierig, für eine junge Zielgruppe zum Thema sexueller Missbrauch zu publizieren", sagt die Autorin, die mittlerweile auch eine Version für jüngere Kinder geschrieben hat. „Ich bin jedoch überzeugt, dass solche Bücher nicht nur für Kinder und Jugendliche wichtig wären, sondern auch für Eltern, um zu verstehen, was im Kinderkopf abläuft, und wie die Täter sich Vertrauen schaffen."
Für Kiesel ist es wichtig, dass Kinder- und Jugendliteratur nicht nur unterhält, sondern den jungen Leserinnen und Lesern auch etwas fürs Leben mitgibt. Im Falle ihrer unveröffentlichten Manuskripte über sexuellen Missbrauch wäre das die Botschaft: „Sag es, wenn dir etwas komisch vorkommt!" Und: „Als Kind musst du nicht versuchen, die Erwachsenen zu beschützen!" Die Autorin ist davon überzeugt, dass Kinder- und Jugendliteratur helfen kann, über tabuisierte Themen zu sprechen: „Mit Büchern und in den Büchern kann man den Kindern Worte geben, um über Situationen zu reden."
Ihre konsequente Arbeitsweise und die regelmäßige Vorlage neuer Projektideen haben Wirkung bei den Verlagen gezeigt: Kiesel wurde eingeladen, Geschichtenideen umzusetzen und selbst welche einzubringen. So erschienen in kurzer Zeit zwei Bilderbücher für Vorschulkinder, fünf Adventkalender mit Fortsetzungsgeschichten und sieben Romane für Volksschulkinder, darunter die dreibändige Reihe „Das magische Schulschiff" bei Loewe, zwei Bände der Kinderkrimi-Reihe „Die Erstkommunions-Girls" bei Kaufmann, und im Juni 2024 „Die Weisheit der Eisbären" in der Reihe „Das geheime Leben der Tiere" des Loewe-Verlags. Auch im Arktis-Buch verknüpft Kiesel Faktenwissen mit einer ansprechenden Geschichte aus der Tier-Perspektive. Ein Fortsetzungsband ist bereits in Planung.
Powerfrau, die mit fünf Projekten gleichzeitig jongliert
Man sieht es der zierlichen Autorin nicht auf den ersten Blick an, welche Power in ihr steckt. Scheinbar mühelos bringt sie Familie, Brotberuf (Werbetexten) und Bücherschreiben unter einen Hut und legt dabei eine bewundernswerte Konsequenz an den Tag. Ihre ersten Manuskripte hat sie morgens zwischen 5 und 6 Uhr geschrieben, bevor sie die Kinder weckte und für die Schule fertigmachte, um dann selbst ins Büro zu gehen und Werbe- und PR-Texte zu verfassen. Jetzt, mit zahlreichen Büchern auf der Backlist und noch mehr Ideen für neue Werke im Kopf, räumt sie dem literarischen Schreiben mehr Raum ein. Drei Manuskriptseiten sind ihr tägliches Pensum, bis zu fünf Projekte gleichzeitig hält sie jonglierend in der Schwebe. Auf ihrer eigenen Website kommt sie mit dem Eintragen der Neuerscheinungen kaum nach.
Ein Stipendium des deutschen Literaturfonds hat Anna Lisa im Frühjahr 2024 ermöglicht, wieder an einem Jugendbuch zu arbeiten. In dessen Zentrum steht Dimitri, ein schüchterner deutscher Junge, der die Sommer bei seinen Großeltern auf einer griechischen Insel verbringt und dort immer aufblüht. Nur dass in diesem Sommer alles anders kommt, weil sein bester Freund einen schweren Unfall hatte und die Welt seither hasst. „Meine Figuren sind nie schwarz-weiß", sagt Kiesel. „Der Coole ist nicht nur cool, sondern weint auch einmal. Und die Hauptfigur ist nicht nur nett, sondern sie schließt auch aus. So erst werden die Figuren menschlich", weiß die Autorin. Für „Sommerfreunde", so der Arbeitstitel, gibt es - derzeit - noch keinen Verlag. Aber man darf davon ausgehen, dass das Buch 2025, spätestens 2026 die beeindruckende Liste der Veröffentlichungen von Anna Lisa Kiesel ergänzen wird.
Werner Schandor
September 2024