Die Poesie in den Reibungen
In ihren Arbeiten erkundet Maria Kanzler gemeinsam mit anderen Künstlerinnen und Künstlern ländliche und urbane Räume in ihrer sozialen, ästhetischen und ökologischen Dimension.
Maria Kanzler hat an der Universität für angewandte Kunst in Wien "Social Design" studiert und sich dabei ein vertieftes Instrumentarium für die Erkundung sozialer Räume vor allem in Städten angeeignet. Eine Vorgabe des Studiums war es, stets im Kollektiv zu arbeiten, und so hat die Künstlerin alle bisherigen Projekte gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen abgewickelt, z. B. die Erkundung der Wiener Grätzelmärkte als soziale Orte im Projekt „1m2 Markt" anno 2021/22 mit Ana Mumladze & Bana Saadeh. Oder die temporäre Kunstkommune „von haus aus" in Kanzlers Heimatort Bad Mitterndorf im September 2023 mit Leah Dorner. Dort haben zehn Künstlerinnen und Künstler in einem alten Bauernhof am Ortsrand über Landflucht und die Schwierigkeit, zeitgenössische Kunst im ländlichen Raum zu leben, diskutiert und gearbeitet. In allen Projekten der Ortwein-Absolventin steht das Miteinander und der soziale Austausch an bestimmtem Orten im Mittelpunkt. Während des Aufenthalts in Pristina, wo sie von der Foundation 17 (Shtatëmbëdhjetë 17 auf Albanisch) betreut wird, hat sich Kanzler im Herbst 2023 mit einer andersgearteten Erfahrung auseinandersetzen: der Einsamkeit.
Wer mit Tieren in Beziehung tritt
Maria Kanzler trat ihre Residency in der Hauptstadt des Kosovo Anfang Oktober 2023 an, unmittelbar nach dem intensiven Gemeinschaftserlebnis von „von haus aus". „Im Konzept, das ich für die Residency in Pristina eingereicht habe, stelle ich auch Fragen wie: ‚Findet man Verlorenheit?‘", erzählt sie im Video-Interview Ende Oktober. „In Pristina bin ich viel alleine unterwegs. Und mir ist aufgefallen - weil es hier viele Straßenhunde gibt -, dass man anfälliger wird für die Tiere in der Stadt, wenn man alleine ist. Einsamkeit ist meines Erachtens eine europäische Kulturkrankheit. Es ist interessant, wer die Tiere füttert, wer in Beziehung tritt mit ihnen. Hier nehme ich das jetzt am eigenen Leib wahr." Kanzler befasst sich seit Längerem mit Methoden des Zuhörens und mit Übersetzungsmöglichkeiten bzw. auch mit dem Scheitern der Übersetzung, was zu einer Art Verlorenheit führt.
Was sich bewegt, wenn der Mensch verschwindet
Auch die Krähenschwärme, die jeden Abend lärmend über die Stadt ziehen und deren Gekrächzte sich mit der Geräuschkulisse des Feierabendverkehrs mischt, haben ihre Aufmerksamkeit geweckt. Kanzler nimmt die Geräusche auf, die Soundfiles fließen vielleicht in ihre Arbeit ein. Und eventuell kommt es ja doch wieder zu einer Kollaboration, denn die Künstlerin hat eine Musikerin aus Pristina kennengelernt, die bereits ein Projekt zum Thema Lärmverschmutzung gemacht hat. Im Zentrum von Kanzlers Betrachtung soll jedenfalls ein klar abgezirkelter Ort stehen: der Garten der „Rezidenca 17" der Foundation 17. „Ich habe mich entschieden, mit allem zu arbeiten, was sich bewegt, wenn der Mensch verschwindet - auch, um der Übersetzungsthematik zu entkommen."
Was der Künstlerin in ihren Arbeiten immer gelingt, ist: den Orten, die sie untersucht, unentdeckte, poetische Aspekte abzugewinnen - sei es durch nächtliche Erkundungen, die die Wahrnehmung schärfen, sei es durch neugieriges Aufspüren von Zwischenräumen aller Art: örtlichen, zeitlichen, sozialen. Auf die Frage, ob Pristina mehr poetische Seiten hat, oder ob die Stadt eher prosaisch ist, antwortet sie: „Ich glaube, Pristina hat beides. Es gibt sehr viele Dinge, die von sich erzählen; und vor allem die Menschen haben einen großen Drang, ihre Geschichte zu erzählen, was für mich mit der Stadt verwächst. ... Im Großen und Ganzen gibt es vermutlich keinen Ort, der keine Poesie hätte."
Das Besondere von sozialen Räumen wird für Maria Kanzler oft an den Reibungspunkten sichtbar. „Gestern habe ich Kaffee getrunken mit den Bibliothekarinnen in der Rezidenca, und als sie auf Albanisch wechselten, habe ich gemerkt: ‚Ah, sie tratschen über irgendwas‘; und: ‚Ich will es wissen! - Es sind solche Momente, wo die Themen anderer und der Alltag, der an ihnen schrammt, durchkommen. Da ist ganz viel, was ich nicht verstehe. Die Stadt hat viele solche Reibungspunkte."
Diese kleine Szene illustriert Maria Kanzlers künstlerische Herangehensweise, die sie auf ihrer Website wie folgt beschreibt: „Mich treibt der Drang nach Konfrontation - Fragen zu stellen, Dinge verständlich zu machen, Neues zu lernen und dabei zu akzeptieren, nicht immer alles verstehen zu können. Im Prozess suche ich nach dem Unperfekten und Missverständlichen, das es zu entwirren und neu zu verknoten gilt. Das Schöne an der Suche ist, dass man nie weiß, was man findet."
Maria Kanzler, *1992, aufgewachsen in Bad Mitterndorf. Besuchte die Ortweinschule in Graz und studierte anschließend Grafik Design und später Social Design an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Kanzler lebt und arbeitet als Gestalterin in Wien.
Website: https://mariakanzler.com/
Werner Schandor
November 2023