Schau nicht zurück!
Der Musiker Klaus Wohlgemuth über die Suche nach dem richtigen Klang und die beglückende Wirkung des Vergessens.
„Die Dinge passieren nie, wie wir es erwarten. Das ist das Thema aller meiner Filme." (Claude Sautet)
„Ich bin wohl noch mehr Freund der Künste als Künstler und brauche die Kunst zum (Über)Leben", erklärt mir Klaus Wohlgemuth in einem Gespräch im Grazer Café Kaiserfeld und erklärt damit sehr gut das Fundament seines musikalischen Schaffens. Der 1984 in Graz geborene und im südoststeirischen Wörth bei Gnas auf einem Bauernhof aufgewachsene Musiker ist Mitglied der Bands „Fragments Of An Empire", „Spring and the Land", „Tiger Family" und hat unter dem Namen Tare auch schon zwei Solo-Alben veröffentlicht. Nach dem Besuch der Volks- und Hauptschule wollte Klaus das BORG in Bad Radkersburg absolvieren. Ökonomische Gründe verhinderten das und es folgte eine Lehre als Installateur für Gas, Wasser und Heizung. Diese Zeit bezeichnet Klaus Wohlgemuth heute „als die schlimmste Zeit meines bisherigen Lebens". Ein Jahr Zivildienst beim Roten Kreuz half ihm, wieder Mut zu schöpfen und Tritt zu fassen.
"Essayistische Musik"
Nachdem er die Matura berufsbegleitend nachgemacht und sich zwischendurch für die Filmakademie beworben hatte, begann er, sich wieder intensiver mit Musik zu beschäftigen. Der Proberaum in Grabersdorf bei Gnas wurde zum Dreh- und Angelpunkt seiner musikalischen Entwicklung. Er war nicht nur der Ort des musikalischen Experimentierens, sondern zugleich der Platz für hitzige Diskussionen, Ideenaustausch und die Entwicklung von Projekten. 2005 erfolgte nach Auflösung vorhergehender Bandprojekte („Hail Ants" und „Nouvelle Vague Sans Image") die Gründung von „Fragments Of An Empire". Die Musik des Post-Rock-Kollektivs besticht mit ihrer genuinen Ästhetik, die Einflüsse von Noise, Folkrock, (Free) Jazz, Drone und zeitgenössischer Musik aufeinander wirken lässt, und mit der Vielfalt ihrer Instrumentierung. Improvisation trifft auf konventionelle Gitarrenrockmuster, experimentelle Klänge treffen auf Melodien, vorgefertigte Muster auf freie Jam-Sessions, Klarheit auf Chaos. Neben E-Gitarren und Schlagzeug reicht der Bogen vom Klavier über die Querflöte und Violine bis zum Kontrabass. Klaus Wohlgemuth spricht im Zusammenhang mit „Fragments Of An Empire" von „essayistischer Musik", die mehr Fragen stellt als Antworten gibt und über Stimmungen eine Atmosphäre schafft, „in die man eintauchen und eine ganze Zeit verweilen kann, so warm und schön ist es dort." „Fragments Of An Empire" ist über die Jahre zu einer eigenständigen Trademark für freigeistigen Post-Rock aus der Steiermark geworden. Rund um das Musikerkollektiv hat sich auch ein eigenes Musikfestival entwickelt, das innerhalb des subkulturellen Popuniversums keinen geringen Stellenwert besitzt.
Wo die Schwalben rückwärts fliegen
Gemeinschaftliches Denken und ein autarkes Leben lernte Klaus Wohlgemuth von seinen Eltern und seinem Großvater. Und den Respekt vor den Menschen auf dem Land. „Ich habe nie verstanden, wieso manche Städter meinen, die Menschen auf dem Land würden sich Neuem oder Experimentellem grundsätzlich verschließen. Das ist ein Irrtum. Man muss ihnen einfach die Möglichkeit bieten, niederschwellig in ihrem gewohnten Umfeld Neuem und Experimentellem zu begegnen." Um zu zeigen und zu beweisen, dass auch im ländlichen Raum musikalische Vielfalt und experimentelle Klänge gedeihen und bestehen können, wurde 2009 das Musikfestival „Where Swallows Fly Backwards" gegründet, das seit damals fast jährlich am Hof der Familie Wohlgemuth in Wörth bei Gnas stattfindet und ohne familiären Zusammenhalt und freundschaftliche Unterstützung gar nicht auszurichten wäre. Beim Festival harmonieren Rockmusik, zeitgenössische Musik, elektronische und experimentelle Klänge stimmig miteinander. Das Festival wurde über die Jahre immer größer und erfolgreicher und konnte nicht mehr allein von einzelnen Privatpersonen veranstaltet werden. Aus diesem Grund wurde 2017 der Kulturverein Offbeat Ranch gegründet, der seither für die Organisation und Durchführung des Festivals verantwortlich zeichnet.
Songs und Sounds
Wenn man Klaus Wohlgemuth danach fragt, was ihm wichtiger erscheint - der Song oder doch der Sound - dann antwortet er paraphrasierend mit einem Ausspruch von Thomas Bernhard: „Wenn ich in der Stadt bin, will ich aufs Land, und wenn ich auf dem Land bin, will ich in die Stadt. So geht es mir mit Songs und Sounds. Aber grundsätzlich brauche ich als Musiker beides." Bei der „Tiger Family" und bei „Spring and the Land" stehen die Songs im Zentrum, bei „Fragments Of An Empire" und seinem Soloprojekt „Tare" die Sounds. Während beim Song die Form vorgegeben ist und die Nuancierungen und Farben den Unterschied ausmachen - „man kann einen Song auf ganz unterschiedliche Arten spielen, das ‚Wie‘ ist das Entscheidende" -, ist es bei Sounds ein Herantasten und Ausloten, wo aus Struktur und Form Schritt für Schritt der richtige Klang wird. Diese Ambivalenz zwischen Song und Sound treibt Klaus Wohlgemuth schon Zeit seines Musikerlebens um und prägte auch sehr bald seine Hörgewohnheiten. Diese spannen einen Bogen von Nick Drake, Bill Callahan (Smog) Aphex Twin, Boards Of Canada, Red Red Meat und Pink Floyd über John Cage, Morton Feldman, Luigi Nono und György Ligeti bis Wolfgang Amadeus Mozart und (immer wieder) Franz Schubert.
Die Dinge sind schön, weil sie nichts wollen
„Die Dinge sind schön, weil sie nichts wollen." Dieser Satz könnte von Klaus Wohlgemuth stammen und beschreibt auch das Motto seines musikalischen Schaffens ganz treffend. Jede Form von künstlerischer Eitelkeit und Geltungssucht ist ihm ebenso fremd (geblieben) wie die heutzutage übliche Praxis der Selbstvermarktung. Viel lieber widmet er sich immer wieder neuen Projekten. Seit 2020 firmiert er als Solo-Künstler unter dem Namen „Tare" und hat mit „Fat Bird Don´t Fly" und „Until Our Hearts Burst Carrying All This Gold" schon zwei Alben veröffentlicht. Seine Musik schlägt eine Brücke zwischen song- und soundorientierter Ausrichtung. Mit seiner akribisch-intimen Arbeitsweise werden klassische Songformate zwar angedeutet, dann aber auf hörenswerte Weise umschifft. Klaus Wohlgemuth agiert als Klangforscher, tüftelt mit dem Equipment und betreibt großen Aufwand, um über die passenden Klänge Stimmungen und Atmosphäre zu evozieren. Die Studiotechnik, Mikrophone und Verstärkerkombinationen werden in diesen Produktionen zu einem weiteren, eigenständigen Instrument. Diese Musik oszilliert auf faszinierende Art zwischen Eklektizismus und dezenter Manieriertheit - in den Liner-Notes werden externe Zitate & Samples u. a. von Robert Frank, Jean-Luc Godard, Marguerite Duras, Akira Kurosawa, Gerhard Rühm, Max Ophüls angeführt. „Tare" beeindruckt mit seinen gravitätisch-atmosphärischen Klanglandschaften, die Ruhe und Weite beschwören und mit ihrer kontemplativen Kraft die beglückende Wirkung des Vergessens hervorrufen.
Website Fragments Of An Empire
Website Where Swallows Fly Backwards
Heimo Mürzl
März 2023
Diskografie Klaus Wohlgemuth
Tare
- Fat Bird Don't Fly - 2021
- Until Our Hearts Burst Carrying All This Gold - 2023
Fragments Of An Empire
- Fragments Of An Empire - 2007
- I´ve Left The House With Light Clothes Only / Now I´ll Never Get Warm Again - 2009
- Unspoken (E.P) - 2011
- Gimel - 2013
- Exil - 2017
- Fast // Asleep - 2023
Tiger Family
- Tiger Family - 2016
- Tarantoga - 2018
- Good Year - 2021
- Live At Guest Room - 2023
Spring and the Land
- Live in Exile - 2013
- Can You Forgive Her/Hole (Single) - 2014
- Summerset - 2015
Čatta / Wohlgemuth aka Empire State
- Night Will Fall (online release) - 2020
- 14 9 22 (online release) - 2022
Nouvelle Vague Sans Image
- Nouvelle Vague Sans Image (E.P) - 2005
Ratrock Tot Sint Jans
- Silvester Möstl - 2012
- Tapes Of Interest - 2013
- Mud - 2015