Liebevolle Überforderung durch die Kunst
Die 1. Grazer Lesebühne hat sich auf ein kleines, kompaktes Format komprimiert und präsentiert mit VOLT eine zweimonatliche Veranstaltung.
2013 wurde die 1. Grazer Lesebühne gegründet, zwischendurch gehörten neun Autorinnen und Autoren dem Kollektiv an. Seit 2022 ist vieles anders: Die 1. Grazer Lesebühne besteht mittlerweile aus Da Wastl (Sebastian Voves), Anna Lena Obermoser, Klaus Lederwasch und Mario Tomić, und die geben der Freiheit im Denken und im künstlerischen Ausdruck immer Vorrang. Das betrifft auch die Wahl des Namens für das neue Format, der mit VOLT aus einem Akronym der Nachnamen der Mitglieder besteht. Zu ihren Auftritten lädt das Quartett je eine*n auswärtige*n Slam-Künstler*in, Sänger*in oder Kabarettist*in ein. Gemeinsam entsteht dann ein Abend, der geballte Poesie, Lyrik, Slam-Texte, Songs und jede Menge rotzfreche Impro-Komik zu bieten hat. Die regelmäßige Überforderung des Publikums ist dabei Ehrensache.
Poetry Slam ist eine Kunstform, bei der sich die Künstlerinnen und Künstler sehr, sehr nahe, fast intim, an ihre Zielgruppe heranwagen. Der künstlerische Prozess passiert zu einem großen Teil in Echtzeit, ebenso wie die Reaktionen darauf. VOLT treibt dieses Prinzip auf die Spitze und hat es zu einem unaufgeregten, aber dynamischen Veranstaltungskonzept weiterentwickelt. Die Wettbewerbskomponente wurde gestrichen, was mehr Raum für künstlerische Freiheit und Diversität erlaubt. Das war schon bei der Reihe „Gewalt ist keine Lesung" der 1. Grazer Lesebühne so, bei der auf der Bühne mit Vorgaben von den damaligen „Star-Gästen" jede Ausgabe ein neues kleines Theaterstück entwickelt wurde. Premiere hatte die ungewöhnliche Literaturshow von VOLT im Mai 2022 im Café der Grazer „Postgarage".
Diversität und Nonchalance
Weniger Akteure bedeutet mehr Verantwortung für jeden einzelnen, macht das Kollektiv aber auch in sich demokratischer und nach außen fassbarer. „Eine kleinere Truppe bedeutet, dass sich jeder eben mehr einbringen kann oder sogar muss", meint Mario Tomić, der Autor und bildender Künstler ist und bei VOLT die Rolle des Conférenciers einnimmt. Klaus Lederwasch ist österreichischer Poetry-Slam-Meister 2012 und 2017 und für die Logistik zuständig. Jenseits der Bühne bringt er in Verkehrspädagogik-Kursen „Kindern das Bremsen bei". Da Wastl, Pädagogik-Student und ehemaliger Skateshop-Inhaber, konnte sich zwei Vize-Landesmeistertitel im Poetry Slam holen und wird gerne als „Lyrik-Kücken" geneckt, da er erst vor wenigen Jahren mit der Slam-Poesie begonnen hat. Ganz anders Anna Lena Obermoser, die 2015 als erste Frau den U20-Meistertitel für sich erringen konnte. 2019 hat sie mit „g'scheit goschert" die österreichische U20-Poetry-Slam-Anthologie herausgebracht. Gemeinsam mit Mario Tomić kümmert sie sich bei VOLT um die Versorgung der Gäste. Mario erstellt die Werbegrafiken, für die PR sind alle zuständig.
Gefühlsanarchie auf der Bühne
Theaterstück gibt es keines mehr, dafür eine kleine Auswahl an Kunstgattungen wie Songs oder Stand-up, die den Auftretenden per Würfel zugeteilt werden. Das Publikum spendet hierfür die Stichworte, muss sich aber beschimpfen lassen, wenn ein Wort nicht gefällt. Freestyle betrifft bei VOLT eben nicht nur die Poesie, sondern auch die Regeln. Versprecher oder Hänger haben dabei genauso ihre Berechtigung wie die glasklare Reimakrobatik von Da Wastl, die locker-flockig gestrickten Country-Dada-Epen von Klaus Lederwasch auf der Gitarre oder die feurig-sanfte Mundartlyrik von Anna Lena Obermoser. Mario Tomić seufzt nach ihren Auftritten zwar regelmäßig über zu viel Gefühl und haut lieber mit zorniger Dichtung über Privilegien und deren Abwesenheit um sich. Das hält ihn aber nicht davon ab, selbst auch mal ein Gedicht zu liefern, bei dem es einem die Nackenhaare aufstellt vor Intensität, wenn er selbst verliebt ist. Instant-Witze, wie das bei einem Kabarett der Fall sein kann, gibt es hier keine. Manchmal möchte das Lachen im Hals stecken bleiben, aber es findet immer einen Weg heraus, weil alles eben echt ist: Das Lampenfieber, die Wut auf das System, die Sehnsucht, Freude an einem spontanen Einfall und der Spaß am gemeinsamen Performen. Die Truppe tritt geschlossen und harmonisch auf und ist bis zum Hals mit Respekt und Wertschätzung für die Kolleginnen und Kollegen und das Publikum angefüllt. Genderthematik und Political Correctness werden verspielt verarbeitet, sind selbstverständlich, aber nie sperrig. „Diskurs statt Dogma" lautet die Devise und so lässt es sich Anna Lena Obermoser als einzige Frau im Team nie nehmen, anzumerken, dass sie sich immer „unwohl" fühlt, wenn das Wort Penis in einem der Texte ihrer Kollegen fällt. Und es fällt oft.
Schatzkiste Netzwerk
Freundschaft, Freundlichkeit und Beziehungen sind auch der unerschöpfliche Schatz, aus dem die vier bei der Auswahl ihrer Gäste schöpfen können. Bei VOLT ist schon Antonia Stabinger im Vagina-Kostüm über die Bühne gesprungen, neben David Scheid, Sigrid Horn, Marvin Sukut wurde auch die Rapperin und Autorin Yasmin Hafedh (Yasmo) ans Mikrofon gebeten. Der Traurige Gärtner (Fabian Unger) fühlte sich auf der VOLT-Bühne so wohl, dass man ihn mit viel gutem Zureden davon entfernen musste. Kaum sonst wo kann man den bereits hell strahlenden oder aufgehenden Sternen der Poetry-Szene so nahe kommen wie bei VOLT. Kaum sonst wo müssen sich diese aber so stark behaupten wie hier, um gegen die überbordende, lyrische Anarcho-Energie des Grazer Kollektivs anzukommen.
Lydia Bißmann
Stand: Jänner 2023