Gezeichnete Collagen im digitalen Raum
Nach Studien in Wien und Utrecht ist die Künstlerin Nicole Wogg nach Graz zurückgekehrt. In ihren jüngsten Collagen verdichtet sie Motive aus Frauenzeitschriften zu surrealen Bildwelten. Manche der Bilder öffnen mittels App die Tür zum virtuellen Raum.
Unter einem Glassturz ist ein gezeichneter, über der Nase abgeschnittener Frauenkopf ausgestellt, in Vorratsgläsern, die von der Decke hängen, befinden sich gezeichnete Körperteile und Tiere, und an den Wänden des Ausstellungsraumes sind Collagen zu sehen, die mit teils verdeckten, teils verschobenen Gesichts- und Körperpartien Porträts andeuten - geklebt, gezeichnet und als Acrylbilder in gedeckten Farben. Einige der Arbeiten sind mit einem Hinweis versehen, und wenn man das Smartphone mit der App „Artivive" darauf richtet, eröffnet sich über den Smartphone-Screen eine weitere Bilddimension von hervorspringenden, sich bewegenden Ebenen: Willkommen in den „fragmentierten Wirklichkeiten" der Grazer Künstlerin Nicole Wogg.
Neu zusammengesetzte Bildwelten
Zu sehen war Woggs Ausstellung „Fragmented Realities" im Frühjahr 2022 in der Galerie Grill in Graz. Die Bilder entführten in einen Kosmos künstlicher Welten, wie sie uns in Mode- und Beautyzeitschriften als wirklichere Wirklichkeit vorgesetzt werden. Nur dass die Künstlerin diese Bilder in ihre Einzelteile zerlegte und mit Bleistift, Acrylfarben und in einer zusätzlichen virtuellen Dimension neu zusammensetzt.
„Wir können nur ahnen, wie abstrakt Collagen vor hundert Jahren gewirkt haben müssen, als der Fluss an Bildern, Nachrichten und Texten gerade noch ein zarter Bach war", schrieb Tanja Gurke, Geschäftsführerin des Grazer Kunstvereins, im Begleittext zu Woggs Ausstellung. „Nun generieren unsere Feeds und Kanäle pausenlos Bild- und Datenmaterial mit unterschiedlichsten Informationen, die wir automatisch miteinander und mit anderen Fragmenten verbinden, bis sie zusammenhängend und sinnvoll erscheinen." - Nur dass in Woggs Arbeiten diese vermeintliche Sinnhaftigkeit radikal in Frage gestellt wird.
Studienjahre in Wien und Utrecht
Nicole Wogg, Jahrgang 1986, aufgewachsen in Leibnitz, hat sich schon früh der Kunst verschrieben. Sie absolvierte die Meisterklasse Malerei an der Grazer Ortweinschule und studierte danach an der Akademie der Bildenden Künste in Wien bei Christian Ludwig Attersee und Judith Eisler. Während eines Auslandsjahres an der Kunstuniversität Utrecht war sie der Wirkstätte eines ihrer großen Vorbilder, M. C. Escher, ganz nahe. Ein Zitat des niederländischen Grafikgenies findet sich auch auf der Website www.nicolewogg.com: „Nur die, die das Absurde versuchen, werden das Unmögliche erlangen."
Surrealer Alltag im Lockdown
Absurdes und Surreales gehören für Wogg zusammen. „Ich mag den Surrealismus sehr gerne und versuche immer wieder, surreale Begebenheiten des Alltags herzunehmen und zu verarbeiten," sagt die Künstlerin - und schränkt im Nachsatz ein: „Seit den Corona-Lockdowns passe ich da allerdings mehr auf, weil der Alltag selbst dermaßen surreal wurde. Deshalb habe ich mich in den jüngsten Arbeiten auf die Bildwelten von Frauenzeitschriften konzentriert." - Auch die Architekturmotive, die sie in früheren Collagen aufgriff, hat sie pandemiebedingt hinter sich gelassen. „Im Lockdown sein, sich eingesperrt fühlen und dann noch Architektur abzeichnen, das wäre mir zu viel geworden." Und so dominieren in ihren neuesten Werken vor allem weibliche Gesichter, bei denen die Augen meist verdeckt sind, und kapriziert wirkende Handhaltungen die Bildebene. Wogg selbst interpretiert in die Gesten und die Symbolfragmente ihrer Collagen wenig hinein - das überlässt sie den Betrachtern. Ihre irritierende Wirkung entfalten Woggs Werke, indem sie Vertrautes aufgreifen, aber mit Aussparungen und Verfremdungen auf eine Ebene hieven, die sich der schnellen Rezeption und intellektuellen Auflösung des Symbolhaften verweigern.
Haptisches Erleben
Für Nicole Wogg ist das haptische Erleben beim Zeichnen ein wichtiger Bestandteil ihrer Kunst. Sie arbeitet am liebsten mit Bleistift, oft und meisterhaft auch mit Farbstiften, und in ihren neuesten Arbeiten hat sie endgültig zur Malerei gefunden. Der anstrengendste Teil für die Künstlerin, die seit der Pandemie ihren Lebens- und Arbeitsmittelpunkt nach Graz verlegt hat, ist aber das Gestalten der virtuellen Ebenen am Computer, die sie mithilfe der App „Artivive" in viele ihrer Bilder einzieht: Da blicken einem neugierige, gezeichnete Gesichter entgegen, die vor den Bildern in der Luft zu schweben scheinen, da schaut ein Auge suchend aus einer Hand, die es umschließt, und zweidimensionale Werke falten sich am Screen in eine vermeintlich räumliche Dimension auf und geben den Blick auf verdeckte Bildteile frei.
Gegen herrschende Schönheitsideale
"In meinen Bildern spiegelt sich das Zeitgeschehen wider - schon allein, weil ich mit Zeitschriften arbeite, aber auch, weil ich mit bzw. gegen die herrschenden Schönheitsideale arbeite", sagt die Künstlerin. „Ich mag es gerne, wenn Bilder phantasievoll sind und nicht nur die Realität darstellen. Und ich kombiniere gerne Dinge in meinen Bildern, die im wirklichen Leben gar nicht zusammenpassen. So wie die Frauenzeitschriften surreale Welten darstellen, die es im wirklichen Leben gar nicht gibt."
Gleichzeitig will Wogg mit ihren Bildern dazu anregen, selbst kreativ zu werden: „Collagen mit Papier und Schere kann jeder ganz leicht selbst machen", findet sie. Die Verdichtung zu inspirierenden Grafiken und Bildern, in die man eintauchen kann wie in Träume, ist allerdings echten Könnern wie ihr vorbehalten.
Artivive fürs Smartphone downloaden, und die Bilder in ihrer Vielschichtigkeit betrachen:
https://artivive.com/
Werner Schandor
Stand: April 2022