Die vielen Formen der Vergangenheit
Kindheitserinnerungen werden Kunst und längst verspeiste Mandarinen feiern Wiederauferstehung – Mira Klug pflegt in ihren Arbeiten einen ästhetisch aparten, spielerischen und zugleich wohldurchdachten Umgang mit dem Medium der Fotografie und sucht dabei die Nähe zu mächtigen Begleitern des Menschseins: Zeit, Erinnerung und Vergänglichkeit.
Wer durch das Portfolio von Mira Klug blättert, wird über ein Zitat des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard stolpern: „Erinnerung und Wiederholung sind die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzte Richtung." Der Satz ist zwar kurz, lädt aber zu längeren Überlegungen ein. Doch es ist nicht nötig, das Aperçu hier und jetzt gänzlich zu durchdringen - einfach kurz sickern lassen und dann in die künstlerische Welt von Mira Klug aufbrechen. Klug wurde 1992 in Graz geboren, ist nach dem Besuch der Grazer Ortweinschule nach Wien gezogen, um das Studium der künstlerischen Fotografie an der Universität für angewandte Kunst aufzunehmen, heuer hat sie es erfolgreich abgeschlossen. Vertreten wird sie derzeit durch die Galerie Rudolf Leeb.
Von Kierkegaard zum Mandarinen-Projekt
Die meisten werkerklärenden Sätze im Klug'schen Portfolio stammen natürlich nicht von großen Philosophen, sondern sind passgenau auf die Arbeiten der Künstlerin zugeschnitten. Eine zentrale Formulierung: „Durch das Generieren neuer Ordnungssysteme relativiert Mira Klug den ursprünglichen Sinn und pragmatischen Nutzen alltäglicher Handlungen und flüchtiger Gesten." Was in der Theorie etwas unbeseelt klingt, wird mit Leben erfüllt, sobald man sich die Behauptung anhand konkreter Arbeiten vergegenwärtigt - etwa mit „Skin Picking", „Leibliches Ornament 1-14" und „Verkörpert". Sie sind heuer entstanden und bilden einen Zyklus, den man inoffiziell „Mandarinen-Projekt" nennen darf. Alles begann mit einer alltäglichen Handlung, dem Schälen und Verzehr einer Mandarine: „Die Schale habe ich in ein Notizbuch gelegt, weil kein Mistkübel in der Nähe war. Wochen später ist sie mir wieder untergekommen - platt gedrückt, quasi als zweidimensionales Objekt. Plötzlich hatte ich die komplette äußere Form der längst verspeisten der Mandarine vor mir, nur eben verflacht", erzählt die Künstlerin in ihrem kleinen, aber reizenden Atelier am Alsergrund, dem 9. Wiener Gemeindebezirk. Nach diesem Erlebnis beginnt sie, über einen Zeitraum von mehreren Jahren, „beinahe neurotisch" die Schalen von verputzten Mandarinen zu sammeln, pressen, trocknen und aufzubewahren. „Es war eine Selbststudie, ich habe nicht gewusst, wohin sie führt."
Die Wiederauferstehung eines Obstes
Die Studie führt, in einem ersten Schritt, zu einem Mandarinenschalen-Archiv. Die Häute, die Klug den Früchten stets im Ganzen abzieht, nehmen in gepresstem Zustand die unterschiedlichsten Formen an, sehen mitunter aus wie mutierte Seepferdchen. Die gesammelten Häute bringt die Künstlerin in neue Ordnungssysteme: „Skin Picking" zeigt siebzig Schalen, jede einzelne auf einem Opalglas (21 cm x 14,5 cm) fixiert. Die siebzig Einzelexponate fügen sich - symmetrisch an der Wand geordnet - zu einem großen Gesamtbild. Was zuvor nicht mehr als das Abfallprodukt einer alltäglichen Handlung war, darf - künstlerisch-ästhetisch auf Schiene gebracht - wieder aktiv am Leben teilnehmen. Für „Leibliches Ornament 1-14" entwirft sie vierzehn Tapetenbahnen, dicht an dicht drängen sich die Schalenmuster auf schwarzem Hintergrund. Die Bahnen lassen sich variabel zu einer Gesamttapete zusammenfügen - hier wird das Handlungsmuster (zwanghaftes Mandarinenschälen) in ein beinahe barockes Gestaltungsmuster überführt. Schließlich darf in „Verkörpert" aus dem Abstrakten wieder etwas Konkretes entstehen, die Formen der Mandarinenschalen werden als Schnittmuster auf rosafarbenes Leder übertragen, gefüllt und zusammengenäht - die längst verdauten Mandarinen feiern Wiederauferstehung. Ihre neue Körperlichkeit mutet zwar etwas befremdlich an, eher wie eine Kartoffel oder ein Baseball, aber immerhin: Sie sind wieder da!
Fangspiel mit der Vergangenheit
Den Hintergrund für dieses und andere Projekte - bei einigen handelt es sich um Videoarbeiten - bildet nicht selten die Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit, Erinnerung und Nicht-Loslassen-Können. Freilich sind Klugs Arbeiten keine Vanitas-Stillleben, berichten aber auf ihre Art von der Vergänglichkeit alles Irdischen. Das bringt eine gewisse Schwere mit sich, die Klug jedoch mit subtilem Humor abzufedern weiß. Als verbindendes Moment schwebt über all dem der Geist der Fotografie: „Die Fotografie hält etwas fest, konserviert einen bestimmten Moment und hat in diesem Sinn viel mit Vergänglichkeit zu tun", meint Klug, auch wenn sie keine fotografischen Arbeiten im herkömmlichen Sinn entwickelt. Vielmehr bedient sie sich der Arbeitsmaterialien, der Techniken des Mediums (lichtempfindliche Emulsionen, Fotopapier, Negativ-Scans, Belichtung etc.) und setzt sie so ein, wie es eigentlich nicht vorgesehen ist. Für die Arbeit „AFTER DARK / Win98" etwa belauert Klug einen Computermonitor - über ihn wandeln animierte geometrische Gebilde eines 90er-Jahre-Bildschirmschoners der Serie „After Dark" - mit lichtempfindlichem Fotopapier, um so Kindheitserinnerungen zu bannen: „Durch das Auflegen des Fotopapiers auf den Monitor schreiben sich die Sequenzen innerhalb einiger Sekunden in unterschiedlicher Hell-Dunkel-Intensität in das Papier ein. Es war ein Fangspiel, ich musste immer den richtigen Moment abwarten. Der Bildschirmschoner lief auf dem ersten Computer meiner Eltern, als Kind bin ich einfach davor gesessen und habe zugeschaut."
Die bunten, aber wunden Häuser Tiranas
Für 2020 hat Klug vom Land Steiermark ein Film-Auslandsstipendium zugesprochen bekommen. Zwar ist der zweimonatige Aufenthalt in Tirana aufgrund von COVID-19 vorerst verschoben, das Vorhaben, das sie dort umsetzen möchte, hat allerdings schon Gestalt angenommen. Der Gedanke dahinter: Um die Jahrtausendwende tritt der Künstler und nunmehrige Politiker Edi Rama sein Amt als Bürgermeister der albanischen Hauptstadt an und will ihr ein neues Gesicht verpassen. Zu seinen Maßnahmen gehören unter anderem großflächige Fassadengestaltungen, die ganze Wohnanlagen so farbenfroh machen, wie sie es im Kommunismus nicht sein durften. Mittlerweile aber hat der Zahn der Zeit an den Oberflächen genagt: „Ich verstehe die Fassaden, hinter denen sich die grauen Plattenbauten verstecken, als kollektive Haut - die Zeit hat ihr Wunden in Form von Brüchen und Rissen zugefügt, hinter den bunten Fassaden wird die Vergangenheit sichtbar. Ich werde diese Wunden punktuell schließen, indem ich kleinere restaurative Eingriffe an den Fassaden vornehme und daraus eine fotografischen und eine filmischen Arbeit entwickle." Das Projekt wird zumindest eines deutlich machen: Die Vergangenheit drängt mit Beharrlichkeit immer wieder an die Oberfläche.
Tiz Schaffer
Stand: September 2020