Das wandlungsfähige Faktotum
Seit 2006 ist der Bariton Ivan Oreščanin im Ensemble der Oper Graz, und seitdem hat er sich zu einem der Lieblinge des Grazer Publikums entwickelt. Zu seinen größten Stärken zählt seine Vielseitigkeit, die ihm schon in knapp 80 unterschiedlichen Rollen zugute kam. Eine Annäherung in vier Akten.
1. Akt: Gounod, Faust. „Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie durchaus studiert mit heißem Bemüh‘n."
Da steht er nun, der arme Tor, und ist so klug als wie zuvor. Es gibt sie, diese Menschen, deren Laufbahn ihnen schon in die Wiege gelegt zu sein scheint. Am Beispiel der Musik: Mutter Sängerin, Vater vielleicht auch, und der Sprössling ergreift dieselbe Karriere. Und es gibt die Faustischen, diejenigen, die lange suchen müssen, bis sie das gefunden haben, was sie vollends erfüllt. Ivan Oreščanin ist einer von den Letztgenannten. Geboren in Belgrad, hat er zunächst, als höchst rationaler Typ, nach der elektrotechnischen Schule Maschinenbau studiert, danach folgte ein Wechsel zur Betriebswirtschaftslehre. Im elterlichen Haus stand zwar ein Klavier, die Musik nahm ansonsten aber keinen besonderen Stellenwert im familiären Umfeld der Oreščanins ein. Allerdings kam Ivan sechzehnjährig über eine Cousine zum Chorsingen. Und ab da loderte ein Feuer. Angefacht von Kollegen, die meinten, er solle doch aus seinem wandlungsfähigen Bariton mehr machen, nahm Ivan Oreščanin fortan Gesangsunterricht in seiner Heimat. In einem Anflug von „jugendlichem Leichtsinn" sang er dann auch prompt beim Belgrader Staatsopernchor vor. Und wurde ebenso prompt aufgenommen.
Der Rest? Nachholen eines Musikgymnasium-Abschlusses, Studium an der Hochschule für Musik
und Theater in München bei Prof. Frieder Lang, erste Opernproduktionen im Prinzregententheater und Off-Produktionen und seit 2006 an der Oper Graz. Ivan Oreščanin war angekommen, hat das Faustische abgelegt. Der Faust in Gounods Oper ist freilich auch den Tenören vorbehalten. Aber den Valentin, den hat er schon gesungen.
2. Akt: Mozart, Zauberflöte. „Stets lustig, heißa! hopsasa!"
Bunt steht er da, der Vogelfänger Papageno. Ein flatterhafter Gesell, immer zu Späßen aufgelegt. Auch wenn Ivan Oreščanins Lieblingsrollen andere sind, der Papageno ist ihm sicherlich auch auf den Leib geschneidert. Statt Vögel hat er in seinen vielen Auftritten aber die Bewunderung des (nicht nur) Grazer Publikums eingefangen. Ivan Oreščanin: Der Name steht für einen, der das Spiel auf der Bühne liebt, der verwandlungsfähig ist, der die Essenz ganzer Rollen in einem einzigen schelmischen Augenzwinkern destillieren kann. Das kommt auch im Auditorium so an. „Ich liebe es zu tanzen und überhaupt sehr körperlich präsent und beweglich auf der Bühne zu sein", bestätigt der 40-jährige. Das Komödiantische, das liegt ihm. Und doch will er sich nicht darauf reduzieren lassen. Als er einmal bei einem Vorsprechen für den Part des Don Giovanni für „zu lieb" für diesen ruchlosen Schwerenöter gehalten wurde, war er regelrecht beleidigt. „Genau das ist es ja, was mich an meinem Job reizt, unbekannte Typen darzustellen, jedes Mal aufs Neue. Ich muss kein Massenmörder sein, um einen Nero spielen zu können, kein Adliger, um einen Grafen darstellen zu können. Deswegen liebe ich auch meinen Beruf so sehr, ich kann jeden Tag ein anderer sein."
3. Akt: Puccini, La Bohème. „Chi son? Sono un poeta."
Paris, Ende des 19. Jahrhunderts. In einer kalten Dachmansarde besingt Rodolfo sein Schicksal als Poet, treu der Kunst ergeben. Seine Kollegen, allen voran Marcello, sind bereits vorausgegangen, um sich zu amüsieren. Ein Poet ist auch Ivan Oreščanin, einer, der dem Libretto gegenüber der Musik ähnlich hohen Stellenwert beimisst. Ein Poet, der seine Kunst in Töne verwandelt. Und bei Marcello sind wir nun auch bei seiner Lieblingsrolle angekommen. „Diese Rolle fühlt sich so an, als hätte Puccini sie nur für mich geschrieben, wie überhaupt jede Rolle von Puccini, die ich bis jetzt gesungen habe. Als hätte er mich direkt gefragt, wie ich's denn gern haben möchte." Den Chaunard hat er auch schon gesungen, ein weiterer Freund Rodolfos, der mit ihm gemeinsam in dieser Künstler-WG wohnt. Oreščanin denkt gerne an diese und ähnliche besondere Produktionen zurück, wo die Solisten auch privat zu guten Freunden wurden. Wie generell kein schlechtes Wort über das „Ensemblemitglied" Ivan zu hören ist. Er ist jemand, der diese Momente schätzt, den Zusammenhalt, die Geselligkeit. Das Leben und die Oper, die Realität und das Spiel, die sind für ihn nicht immer eindeutig zu trennen. „Ich kann keinen einzelnen Moment der Rolle des Marcellos hervorheben, da sich alles, wirklich alles echt anfühlt, sich die Situationen in der Oper und im Leben gleichen." Puccini liegt ihm also, singt er immer wieder gerne, aber doch: „Mozart ist für mich der größte Komponist aller Zeiten. Jede Note bei ihm sitzt, erklärt oder verstärkt das Geschehen auf der Bühne im richtigen Maß."
4. Akt: Schubert, Winterreise. „Ich mußt' auch heute wandern, vorbei in tiefer Nacht"
Wir halten fest: Das Spiel, die Komödie, das Ensembleleben, das alles genießt Ivan Oreščanin. Aber sich darauf beschränken, das will er nicht. Und so hat er auch schon Schuberts Liederzyklus „Winterreise" gesungen, ist also schon vom Genre der Oper, wenn auch immer zu ihm zurückgekehrt, weitergewandert. Die Operette und das Musical, das beherrscht er auch. Für eine Tango-Rolle in „Maria de Buenos Aires" wurde er sogar unerwartet für den österreichischen Musiktheaterpreis nominiert. Aber das Lied, das ist nochmal etwas Besonderes. „Liederzyklen habe ich immer schon geliebt, weil das eben keine aus dem Kontext herausgerissenen Arien sind, sondern ein eigener Mikrokosmos ist. Und weil man mit Musik und Wort allein, ohne Bühne, ohne Kostüme, eine ganze Welt erschaffen kann. Ein Klavier, ein Sänger. Mehr braucht es oft nicht."
Wohin es Ivan Oreščanin zukünftig ziehen wird, wohin er noch in den Genres wandern wird? Für Herausforderungen ist er jedenfalls immer zu haben, für Neues offen. In Graz hat er aber ein fachkundiges und dankbares Publikum gefunden, das ihn gerne noch in weiteren 80 Rollen und mehr sehen würde.
Roland Schwarz
Stand: Juli 2020