Von der Leichtigkeit der Schwere
Ursula Reicher ist Sängerin, Pianistin, Komponistin – und mit ihren zahlreichen Projekten wie Recursion-Solo oder dem Void-Quintet eine der erfolgreichsten jungen Jazzmusikerinnen des Landes. Ein Interview
ARTfaces: Du bist Multiinstrumentalistin, unter anderem ausgebildete Pianistin, hast dich aber vor allem als Sängerin profiliert. War das eine bewusste Entscheidung?
Reicher: Eigentlich sehe ich, wenn ich zurückspule, das Klavier als mein erstes Instrument. Ich hatte aber schon ab der Kindheit Stimmbildung, dann kamen auch schnell Gitarre und Trompete dazu. Ich sehe Musik also sozusagen schon von klein auf eher als Gesamtauftrag, in alle Richtungen offen zu bleiben und immer dort vorwärtszukommen, wo ich besser werden will. Ich schreibe ja auch viel für Bigband, da sind dann Instrumente dabei, die ich selbst nicht spiele, aber die ich genauso „kennen" muss, von daher war neben dem Selberspielen auch Instrumentenkunde immer ein wichtiges Thema für mich. Aber um auf die Frage zurückzukommen: Der Gesang ist natürlich etwas Spezielles, wo ich am besten „ausbrechen" kann, und wo ich die Ursi zeige, die ich bin - auch weil Storytelling für mich immer ein sehr wichtiger Punkt beim Komponieren ist. Was noch dazu kommt: Die Stimme ist nicht nur das, was im Kehlkopf produziert wird, sondern etwas, das den ganzen Körper und die Seele umfasst. Das heißt, unser Instrument ist unser Körper, somit wirkt auch jede Stresssituation oder emotionale Belastung unmittelbar auf den Stimmapparat ein. Das ist also etwas ganz anderes als mit einem Klavier, wo ich C-Dur anschlage und immer weiß, was dabei herauskommt.
ARTfaces: Wenn man dein Oeuvre betrachtet fällt auf: Du hast enorm viele Bandprojekte, die nebeneinander in ganz verschiedene Richtungen gehen - von traditionellem Dixieland-Jazz über getragenes Alternative-Songwriting bis zum Jazzquintett und Bigband-Orchester. Wie kommt es zu dieser Stilvielfalt?
Reicher: Was sich, glaube ich, sehr in meiner kompositorischen Arbeit abbildet: Ich habe schon als Teenager enorm viele Genres gleichzeitig gehört. Zum einen Klassik, vor allem Chopin und Skrjabin, also speziell Klaviermusik, aber auch viel orchestrale Musik, wie etwa von Bruckner oder Strawinski. Auf der anderen Seite waren dann Bands wie Radiohead und Nirvana, Musik aus den 70ern, die späten Beatles, Jimi Hendrix und Janis Joplin sehr wichtig, im Jazzbereich Bigband-Musik von Duke Ellington, Gil Evans, Bob Brookmeyer oder auch Sarah Vaugan und Joni Michell; dann hatte ich auch eine ganz harte Metallphase (lacht).
ARTfaces: Kannst du für dich in deiner Arbeit trotzdem einen gemeinsamen stilistischen Nenner ausmachen? Beziehungsweise: Wie ist denn das überhaupt mit deinen Hörern? Man kann sich schwer vorstellen, dass jemand A-cappella-Popnummern wie bei Chilli da Mur und gleichzeitig das Void-Quintet hört ...
Reicher: Ich glaube es sind ganz unterschiedliche Leute, die das hören! Ich persönlich tue mir sehr schwer, meine Musik einzuordnen, es ist immer eine Art von Transition verschiedener Genres. Ich selbst will ja auch gar nicht meine Musik beschreiben oder bewerten, ich finde es gut, wenn das andere machen. Mein Hauptprojekt ist aber definitiv derzeit das Void-Quintet: Das ist gewissermaßen die Mischung aus meinen klassischen und den Jazzeinflüssen, dazu kommen Texte, die für mich fast etwas von Singer-Songwriting haben. Du kannst damit auf einem Klassik-Festival genauso spielen wie auf einem Jazzfestival. Darüber hinaus arbeite ich mit Recursion derzeit als Solokünstlerin, da produziere ich gerade alleine neue Lieder, das geht dann eher in die Poprichtung. Das ist aber kein neuer Stil, sondern eher der Versuch, das, was ich ohnehin mache auf das Wesentliche zu reduzieren.
Was vielleicht aber bei allen Projekten gleich ist, dieses Feedback kriege ich zumindest oft: Ich habe einen sehr düsteren, schwermütigen Stil. Ich sage mal für mich "tiefgründig" dazu. Ich tue mir z. B. auch sehr schwer, einen Happy Song zu schreiben. Weil du das erwähnt hast: Bei Chilli da Mur (die es nicht mehr gibt) haben wir viel überlegt: Wie covern wir einen Song? - Da haben wir nie 1:1 etwas übernommen, sondern immer arrangiert. Das sollte nicht "normales", reines A-cappella sein, das ja manchmal sehr glatt klingen kann; da braucht es für mich sozusagen etwas Dreck. Bei Chilli da Mur war das aber sehr speziell, dadurch funktionierten sogar diese Happy Songs, weil wir die neu arrangiert haben.
ARTfaces:... die Sängerin Judith Holofernes meinte in einem Interview, nichts sei schwieriger, als einen anspruchsvollen Sommersong zu schreiben. Von daher bist du nicht allein mit der Happy-Song-Thematik ...
Reicher: Ja genau! Wenn ich einen hoffnungsvollen Song schreiben will, ist die Barriere da: Wie umgehe ich, dass es kein 08/15-Song wird, sondern was Spezielles hat, das aber dennoch "leicht" klingt? Es gibt da z. B. ein Arrangement für das Quintett von uns: In den Lyrics geht es um die Apokalypse, die Welt ist im Stillstand und alles schläft, aber was harmonisch passiert, ist sehr happy: Es geht um Ambivalenzen, die bedrohlich sind, aber zugleich stark befreiend wirken, wie bei den Doors, bei denen es heißt: "This is the End - my beautiful friend". Man muss, finde ich, vermeintlich negative Dinge so darstellen, dass sie auch eine positive Seite haben, weil du sie akzeptierst. Das versuche ich auch in meinen Lyrics: Die Musik ist vielleicht düster, am Schluss kommt aber oft eine Klarheit oder Conclusio, die positiv sein kann oder jemandem einen Input gibt. Eines der schönsten Feedbacks über meine Musik war, als ein Freund von mir nach einem Konzert zu mir sagte: "Hey, ich gehe jetzt heim und bin einfach total verwirrt; ich glaube, mir ist aber auch über mein Leben grade etwas klar geworden."
ARTfaces: Wenn ich richtig verstanden habe, bringst du demnächst eine neue CD heraus - was kannst du uns darüber verraten, beziehungsweise was sind derzeit deine aktuellsten Projekte?
Reicher: Oh, die CD „Globular Cluster" ist schon 2019 herausgekommen, aber neu ist sie auf jeden Fall noch (lacht)! Das ist eine Aufnahme mit dem Void-Quintet, da bin ich gerade dabei, viel Pressearbeit zu machen, um das Album an mehr Leute zu bekommen. Was sonst neu ist: Ich beschäftige mich mit vielen Dingen bezüglich der Gesamtumsetzung künstlerischer Performance. Das sind Dinge, die nicht viel öffentliche Präsenz verlangen, wie Konzepte schreiben, planen. Woran ich derzeit arbeite, ist die Idee, ein für das Jazz-Genre sehr unübliches Video machen: ein Musikvideo wie in der Popmusik, aber als Jazzquintett. Da erarbeite ich gerade ein genaues Drehbuch. Das ist viel Hintergrundarbeit, die getan werden muss, und es ist mit ziemlich viel Herumfeilen verbunden; um ehrlich zu sein, steh ich da gerade ein bisschen an (lacht).
ARTfaces: Also bist du sozusagen nicht nur Musikerin, sondern auch Multimediakünstlerin?
Reicher: Haha, Ja genau, ich interessiere mich einfach für sehr viel, was mit der Musik einhergeht. Natürlich muss ich mir die Ideen zur Umsetzung dann aber von den Profis einholen.
ARTfaces: Eine letzte Frage: In der lokalen Musikszene ist sehr viel die Rede von der "Jazzstadt Graz" rund um die Kunstuniversität, meist mit etwas nostalgischem Bezug auf die 70er-Jahre, in denen Graz ein europäisches Zentrum für Freejazz war. Dich gefragt als jemand, der die Grazer Szene gut kennt: Hat diese Stadt einen "eigenen Sound"?
Reicher: (überlegt) ... Hm, Ja, finde ich schon! Wie er ist oder warum, kann ich ad hoc schwer beschreiben, aber es hat sicher auch mit der Stadt zu tun. Ich bin auch viel in Wien, aber in Graz merke ich sehr stark, die Stadt hat etwas Eigenes: Graz ist sehr klein, dennoch passiert sehr viel im Kulturbereich. Das hat eine Art eigenen Spirit: etwas Junges, Frisches, wir sind ja auch in einer Studentenstadt, aber dennoch Gemütliches, so wie die Leute hier eben sind. Der Sound ist also auf hohem Niveau, aber nicht überheblich. Wien ist eine größere Stadt, die ich auch sehr schätze, wo ich den Raum und seine musikalischen Szenen ganz anders wahrnehme als in Graz. In Graz ist das Bedürfnis, nach draußen unter die Leute zu gehen, paradoxerweise größer, weil die Stadt kleiner ist. Für die Zukunft fände ich es schön, wenn mehr Kooperationen zwischen den beiden Städten stattfinden würden. Aber, ich bin jetzt wieder abgeschweift. Um die Frage zu beantworten: Ja, ich glaube, Graz hat definitiv einen eigenen Sound!
Felix Jureček
Juni 2020