Das eigene Ding zwischen Wort und Wolle
Nach Stationen in Innsbruck, München, Durham (North Carolina) und Venedig lebt die Künstlerin Claudia Klingenschmid alias Sissi Schmitz alias Claudia Schmitz-Esser seit 2017 in Graz. Bei ihren vielseitigen Aktivitäten stellt sie konventionelle Wahrnehmungen augenzwinkernd in Frage.
Die in der Tiroler Kleinstadt Rum geborene Künstlerin hat nach ihren Studien der Psychologie, Theaterwissenschaften und Literatur als Clown bei den KlinikClowns in München gearbeitet. Parallel dazu hat sie gemeinsam mit der Künstlerin Ina Hemmelmann den öffentlichen Raum der bayrischen Landeshauptstadt mit Strickereien unterwandert. Und nach einem Ausflug ins bildnerische Fach veröffentlichte sie 2019 im Piper-Verlag den Schelmenroman „Parasit ToGo", der aus der Sicht eines Einzellers geschrieben ist.
Wahrnehmungen subversiv unterwandern
Was sich als kleinster gemeinsamer Nenner aus ihren so unterschiedlichen Betätigungsfeldern ergibt, ist Claudia Schmitz-Essers Lust, Wahrnehmungs- und Wirkweisen infrage zu stellen. Am stärksten kam diese subversive Lust als urbane Strick-Guerillera in München zum Vorschein. In der Isarstadt hat sie ab 2010 gemeinsam mit Ina Hemmelmann den aus England kommenden Trend des „Yarn Bombing" etabliert. „Wir fanden, dass München ein buntes, weiches, weibliches, häusliches Gegenelement zu den kalten, harten, männlichen Strukturen im öffentlichen Raum braucht", erzählt Claudia Schmitz-Esser. Mit Häkelblümchen, die sie auf Verkehrsinseln pflanzten, mit bunten Schals für Masten und Hauben für Hydranten schufen sie kleine, farbenfrohe Irritationen im Alltag der bayrischen Landeshauptstadt. „In einer U-Bahn-Garnitur haben wir mit Vorhängen und Bildern von Topfpflanzen eine Oma-Ecke eingerichtet, damit die Leute merken, dass auch diese Räume Lebensräume sind."
Die Aktivitäten der „Rausfrauen" Sissi Schmitz und Ina Hermina, wie sich die beiden für das Projekt nannten, entlockten den Passanten manches Schmunzeln, riefen immer wieder ordnungsbewusstes Eingreifen hervor und brachten ihnen zahlreiche Beiträge in deutschen Medien ein, die über die subversiven Handwerkskunstaktionen berichteten. Das 2014 erschienene „Rausfrauenbuch. Eine praktische Einführung in queere Verstrickungen" lag in den Buchhandlungen gemeinsam mit konventionellen Strick- und Häkelbüchern aus - ungeachtet beispielsweise der Anleitungen für Häkel-Penisse und -Busen und ungeachtet auch der Rezepte für Oktoberfest-Lebkuchenherzen mit der Aufschrift „Ficken?" in rosa Zuckerguss. „Ina und mich haben Genderthemen und Humor gleichermaßen interessiert", erzählt Claudia Schmitz-Esser.
Holzschnitte und erste Gedichte in den USA
Während eines Aufenthaltes in einer US-Kleinstadt in North Carolina arbeitete sie an Holzschnitten und veröffentlichte erste Gedichte. Als sie später mit ihrem Mann, dem Historiker Romedio Schmitz-Esser, nach Venedig übersiedelte, vertiefte sie ihre literarische Tätigkeit. Bereits als Studienassistentin an der Universitätsklinik Innsbruck hatte sich die Künstlerin mit Neuropsychologie beschäftigt. In ihrem ersten Roman, den sie 2019 unter ihrem Mädchennamen Claudia Klingenschmid veröffentlichte, knüpft sie an dieses Themenfeld an, gibt ihm aber einen ganz eigenen, subversiven Twist: „Parasit ToGo" ist aus der Sicht eines abgefeimten Einzellers geschrieben, und zwar des Parasiten Toxoplasma Gondii.
Die Toxoplasmose ist an sich eine harmlose Infektion, kann aber Schäden an Ungeborenen hervorrufen. Daher werden Schwangere bei uns auf Toxoplasma getestet. Aber das ist nicht das einzige: Es gibt Forscher, die meinen, dass der Parasit seine Wirte fest im Griff hat und ihren Willen manipuliert, auch wenn sie nichts davon spüren. Nagetiere mit Toxoplasma zeigten sich von Katzenurin unheimlich angezogen; bei Menschen komme es zu deutlich erhöhtem Risikoverhalten - und alles nur, damit ToGo sich ein neues Wirtszuhause am liebsten in einer Katze suchen kann, so die Vermutung. Denn nur in Katzen kann sich der Toxoplasma-Erreger vermehren.
Ein Einzeller gibt literarisch Gas
Claudia Schmitz-Esser hat diese Toxoplasmose-Theorie aufgegriffen und in einen kurzweiligen Schelmenroman gegossen. Die Hauptfigur ist ein Einzeller, der verschiedene Wirte zu Fall bringt: von einer Pensionistin in Wien über einen sexsüchtigen Womanizer in den USA, eine Klapperschlange, ein ehrgeiziges Schwein in Utah, ein eitles Frettchen und eine venezianische Möwe bis hin zu einem Schwertwal, dessen kontaminiertes Fleisch auf einem japanischen Delikatessen-Teller landet. Im November 2019 wurde „Parasit ToGo" im Literaturhaus Graz präsentiert. Hausherr Klaus Kastberger zeigte sich in seiner Moderation begeistert und verblüfft zugleich über den Ideenreichtum, mit dem Claudia Schmitz-Esser ihren Parforceritt durch verschiedenste Organismen ausgestaltete.
Das Buch wurde von der Autorin in Graz fertiggestellt. Dabei haben sie nicht nur YouTube-Videos, beispielsweise über Schweinezuchtbetriebe in Utah, inspiriert, sondern auch die Grazer Schreibgruppe „Wortlabor", der unter anderem Nava Ebrahimi, Omar Khir Alanam und Katarina Cerna angehören. „Der Austausch in der Gruppe war für mein Schreiben sehr anregend", sagt Claudia Schmitz-Esser, die bereits an einem Folgeprojekt arbeitet. Arbeitstitel und Inhalte des neuen Romans sind noch geheim, nur das Thema verrät die Autorin bereits: „Es wird um Bäume gehen." Graz könnte bei der Themenwahl eine Rolle gespielt haben, denn nach drei Jahren im wasserbeherrschten, morbiden Venedig kommt ihr die steirische Landeshauptstadt „wahnsinnig grün" vor. Und auch die Schrulligkeit mancher Bewohner kommt der Schelmennatur der Künstlerin entgegen: „Besonders im Umland von Graz begegnet man immer wieder Leuten, die ihr eigenes Ding machen."
Werner Schandor
Stand: Dezember 2019