Der gewitzte Künstler (*)
Wies ist eine Insel. Wies muss eine Insel sein. Denn Inseln sind jene Landschaftsformen, die Wolfgang Temmel aktuell beschäftigen. Und Wolfgang Temmel lebt in Wies.
„Das Land ist für mich ein Großatelier. Viele Arbeiten, die ich hier mache, könnte ich in der Stadt nicht machen", sagt der 1953 in der Weststeiermark geborene Künstler. Temmel bezieht sich dabei vor allem auf seine Land-Art-Arbeiten, die er 2008/09 in und um Wies umgesetzt hat: Maulwurfshügel, die wie aus Metallkübeln geschüttet eine Wiese zieren; Eisschirmchen, Regenschirme und bunte Dildos, die wie Pilze aus dem Waldboden schießen. Der slowenische Fotokünstler Tomaž Črnej hat die temporären Interventionen Temmels fotografisch festgehalten.
Wie alle Arbeiten Temmels sind auch diese unbetitelten Land-Art-Werke typisch untypisch für sein Oeuvre. Denn im künstlerischen Kosmos von Wolfgang Temmel hat vieles Platz: von klassisch anmutenden Grafiken bis zur abstrakten Malerei, von Mandalas aus dem Computer bis hin zu aus Stahl geschweißten Kleinskulpturen und jenen übermalten Satellitenbildern mit Landschaften aus Nordkorea, die 2015 im Landesmuseum Joanneum ausgestellt waren. Dabei sind Temmels Videoarbeiten, Hörstücke und Bandprojekte - darunter „Lenins Wheelchair" und das „Bonsai Garden Orchestra" - noch gar nicht genannt.
Über 50 Kunstprojekte listet die Website von Wolfgang Temmel von 1977 bis 2016 auf. Eines der umfassendsten Vorhaben war sein Beitrag für die „Europäische Kulturhauptstadt Graz 2003" mit dem Titel sinnlos . In diesem Projekt befassten sich verschiedene Künstler in Ausstellungen, Interventionen und Veranstaltungen ein Jahr lang mit „Methoden und Strategien der Be- und Verhinderung im täglichen Leben, in der Gesellschaft, in der Kunst". Viele der in Graz gezeigten Arbeiten waren in der Folge auch in Liverpool zu sehen. sinnlos war ein kollaboratives Projekt, das Temmel gemeinsam mit der Kuratorin Evelyn Krausz, dem Künstler Gert Pribitzer und dem Journalisten Werner Krause konzipiert hatte.
Serielles als gemeinsamer Nenner
Den kleinsten gemeinsamen Nenner im vielfältigen Werk des Künstlers, der in vielen Medien zuhause ist, bildet das Serielle, das sich durch die meisten seiner Arbeiten zieht. Temmel variiert seine Ideen, Themen und Motive oft in Bild-/Video-/Sound-Serien. Oder er regt Serien an und führt sie zusammen, wie im Hörstück „Am Arsch der Welt/At the back of beyond". Dafür hat er 1995 zehn in der Provinz lebende Künstler aus Europa, Nordamerika und Australien gebeten, am 15. April 1995 von 10:00 bis 10:42 Uhr ein Aufnahmegerät einzuschalten. Aus den zehn Tonaufnahmen gestaltete Temmel dann eine 42 Minuten lange akustische Collage für das Ö1-Kunstradio. „Ich neige dazu, Ideen weiterzutreiben und auszureizen", sagt der Künstler. „Aber wenn es manieriert wird, sage ich auch: Es reicht!"
In seinen Serien bezieht sich Temmel oft auf die Orte, an denen er arbeitet. Als er 1980 in New York lebte, ließ er sich handtellergroße Stempel mit Flügelmotiven anfertigen. Dann fragte er Passanten auf der Straße, ob sie sich Flügel auf die Schulterblätter stempeln und damit fotografieren ließen. So entstand seine Serie „A collection of angels", die er nach wie vor zu seinen Highlights zählt. „Mit der Zeit haben mich die Leute auf der Straße angesprochen, ob ich der Künstler im Rollstuhl bin, der den Leuten Engelsflügeln gibt", erinnert sich Temmel. New York war - wie London - ein hartes Pflaster für den Rollstuhlfahrer, der sich mit 18 bei einem Mopedunfall drei Wirbel gebrochen hatte.
Zurück in Österreich, arbeitete Wolfgang Temmel als Kunsterzieher in Deutschlandsberg. Dort gingen unter anderem der Maler Herbert Brandl und die Komponistin Olga Neuwirth zur Schule. Sie profitierten in Temmels Kunstunterricht von seiner Weltläufigkeit und auch von seinem Witz, der sich als weiteres Merkmal durch seine Arbeiten zieht. Witz nicht vorrangig im Sinne des Humors verstanden. Auch wenn Temmel meint, er mag es, wenn die Leute vor seinen Bildern laut auflachen - zum Beispiel, wenn sie in seinen computergenerierten Mandalas (2002-2004) plötzlich die Phalli und Vulven erkennen, die zwischen Tee-Eiern, Blüten und Badeschlapfen in die Motive eingearbeitet sind. Viele von Temmels Werken haben Witz im Sinn von Esprit. Sie sind gewitzt. Meist in vielerlei Hinsicht. Und in seinem Projekt „art joke" (2010) hat er diesen Witz auf den Punkt gebracht: Für eine Ausstellung in der Grazer ESC reproduzierte Temmel 33 abstrakte Kunstwerke aus gezeichneten Witzen, die sich über moderne Kunst lustig machen. Die Motive waren großformatig auf Leinwand in der Ausstellung zu sehen, die gezeichneten Witze klein daneben. „Das Klischee von Kunst wird plötzlich tatsächlich zu Kunst", schrieb der „Falter" in der Ausstellungskritik. „Da es nun Kunst ist, müssten sich eigentlich nun Kunsthistoriker an einem Witz abarbeiten."
Der Künstler macht die Kunst
Was hat das Ganze nun mit den eingangs erwähnten Inseln zu tun? - Selbst in einer künstlerisch so aktiven Gemeinde wie Wies ist Temmel eine singuläre Erscheinung. Der Künstler ist sozusagen eine Insel, und er erlebt sich auch im Feld der Kunst, die zunehmend von Kuratorinnen und Kuratoren beherrscht wird, als solche. „Die Kunst wird immer noch vom Künstler gemacht", hält Temmel dem Trend zur Kuratorenausstellung entgegen. „Ich will dieses Privileg nicht abgeben."
Zum anderen faszinieren Wolfgang Temmel Inseln ganz allgemein - von seiner bevorzugten Kanaren-Insel La Palma bis hin zum Südseestaat Vanuatu, wo auf 83 Inseln 103 verschiedene Sprachen gesprochen werden. Temmel hat vor Jahren einen Text über die Kunst geschrieben, der mit den Worten beginnt: „Seit ich Künstler bin, geht mir die Kunst nicht mehr aus dem Sinn." Diese seine „Kunstgeschichte" lässt er von Freunden und Bekannten in verschiedene Sprachen übersetzen. Neulich ist auch Bislama, die Amtssprache von Vanuatu, dazugekommen - als 53. Sprache, in die Temmels Text übersetzt wurde.
Und schließlich arbeitet der Vielseitige mit befreundeten Musikern an einem neuen Album mit dem Arbeitstitel „Island Sessions". Mit dem Bonsai Garden Orchestra war Temmel 2008 erstmals auf der Ukulele zu hören. Die CD „Take One" landete auf der Longlist des amerikanischen Grammy-Awards für das beste Newcomer-Album in der Gattung Weltmusik. 2012 erschien das Album „Domovina" des Band-Folgeprojekts Lenin's Wheelchair, das mittlerweile ebenfalls Geschichte ist. Seit 2018 findet sich Wolfgang Temmel wieder mit österreichischen Spitzenmusikern im Studio ein, darunter dem Cellisten Stefan Wedam, dem Saxofonisten Richie Winkler und dem Schlagzeuger Peter Rosmanith. „Es wird eine fiktive Ethno-World-Music-Scheibe", sagt Temmel. Erscheinen werden die Inselstücke als Vinyl-Doppelalbum 2020 bei Pumpkin Records.
Wolfgang Temmel im Web:
www.temmel.org
wtemmels.wordpress.com
Werner Schandor
Stand: Juli 2019
*Update 2021
Die „Island Sessions" von Clarence Wolof alias Wolfgang Temmel sind im November 2020 auf Vinyl und CD erschienen. Anlässlich der Veröffentlichung hat Barbara Belic mit dem Künstler in ihrer Sendereihe „Das rote Mikro" auf Radio Helsinki über die Entstehung des Albums gesprochen. Hier gibt's die Sendung zum Nachhören >>
ARTFaces-Redaktion
März 2021