Der Musik-Magnet (*)
Der Brasilianer Emiliano Sampaio zieht Musik an wie ein Magnet die Eisenspäne: Die Discographie des Gitarristen, Posaunisten, Komponisten und Arrangeurs umfasst bisher 16 eigene Alben und 25 weitere, an denen er als Musiker beteiligt war. Frisch im Oeuvre: das Doppelalbum „Music for Small & Large Ensembles“ mit Kompositionen für Trio und Big Band.
„Ich habe drei Jahre lang in São Paolo als Gitarrist Broadway-Musicals begleitet, sechs Tage die Woche, zwei Shows am Tag immer das Gleiche. Es war wie ein Bürojob, es hat gereicht", erzählt Emiliano Sampaio. Das war im Jahr 2012, der damals 27-Jährige hatte bereits ein Gitarren-Masterstudium abgeschlossen. Er machte sich auf den Weg nach Europa, um an den Musikunis in Köln und Graz vorzuspielen, sein Ziel: Komposition studieren. Und weil seine Freunde und Bandkollegen vom „Meretrio", der Bassist Gustavo Boni und der Schlagzeuger Luis André, auch Lust auf Europa hatten, brachen sie zu dritt auf und spielten Dutzende Gigs in Paris, Wien, Berlin, Budapest, Graz, Köln und Weimar. Am Ende hatte Sampaio Zusagen von beiden Jazzinstituten in Köln und Graz - und entschied sich aus dem Bauch heraus für Graz.
Sieben Jahre später hat Emiliano Sampaio sein Kompositions-Masterstudium längst abgeschlossen, im Sommer 2019 wird ein Diplom für Posaune dazukommen und in ein, spätestens zwei Jahren voraussichtlich auch ein Doktortitel in künstlerischer Forschung. Aber nicht nur das: Der Brasilianer ist zu einer Fixgröße in der jungen, vitalen und international besetzten Jazzszene der steirischen Landeshauptstadt geworden. Neben dem Meretrio, das von Brasilien nach Österreich übersiedelte, gibt es noch das „Mereneu Project" als klassisches Nonett und seit einigen Jahren auch das „Mega Mereneu Project", mit dem Sampaio seine Kompositionen für Big Band realisieren kann. Und weil der Plafond damit noch nicht erreicht ist, widmet er seine Dissertation dem Verhältnis von Jazz- und klassischen Musikern und hat dazu Stücke für Nonett plus Streicher bzw. großes Orchester geschrieben. Aufnahmen davon gibt es auf YouTube.
Spontane Entscheidung
Vom Jazztrio zur Big Band ist es kein Katzensprung. Und es war auch weniger eine bewusste Entscheidung als vielmehr eine spontane Eingabe, die ihn anno 2012 auf die Frage seines Kompositionsprofessors Ed Partyka, was er denn als Masterprojekt plane, „Musik für Big Band" antworten ließ. Zu diesem Zeitpunkt konnte Sampaio nicht mehr als ein Notenheft mit musikalischen Notizen seiner Europareise vorweisen. „Partyka hat das Heft durchgeblättert", erinnert sich der Musiker, „auf eine Notiz gezeigt, wo ‘Vienna' und das entsprechende Datum stand, und hat gesagt: OK, mach da was draus! Und ich habe mich hingesetzt und mein erstes Stück für Big Band geschrieben."
Nachhören kann man das Ergebnis gemeinsam mit vier weiteren Stücken aus dieser Phase auf dem Album „Tourists" (2015) in Sampaios Soundcloud-Channel. Für „Vienna" erhielt das Multitalent vom US-amerikanischen Jazzmagazin „Downbeat" den „Outstanding Student Award" für die beste Komposition für großes Ensemble zugesprochen. Viele weitere Auszeichnungen für ihn als Musiker und Komponisten sollten folgen. Und seine nächsten beiden Alben, „The Forbidden Dance" mit Mereneu und „Òbvio" mit Meretrio, wurden von „Downbeat" unter die besten Jazz-CDs des Jahres 2017 gereiht.
Vielschichtig und druckvoll
Anstatt nun herzugehen und nach der passenden Schublade für die polyglotte Formensprache des Brasilianers zu suchen (Gil Evans! Kenny Wheeler! Wayne Shorter!), sei folgender Hinweis angebracht: Dass Sampaios Kompositionen sowohl für Trio als auch für Big Band so vielschichtig und druckvoll rüberkommen, hat vermutlich mit seiner musikalischen Sozialisation zu tun. Gemeinsam mit Gustavo Boni und Luis Andrés, die noch immer auch in Rockbands spielen, hat er ursprünglich die Gefilde des Heavy Metal erkundet und sich über Classic Rock und Blues dem Jazz und schließlich auch dem Choro und Bossa Nova seiner brasilianischen Heimat angenähert.
Ein Doppelalbum mit Big Band ...
All diese Stile sowie weitere Einflüsse aus der klassischen Musik und dem klassischen Big-Band-Sound sind der Nährboden für Sampaios sprühende musikalische Ideen, von deren Bandbreite man sich auf dem neuen Doppelalbum „Music for small and large ensembles" erneut überzeugen kann. CD Nr. 1 ist mit dem „Mega Mereneu Project" eingespielt und beinhaltet neben einer Bearbeitung von Theolonius Monks „Round Midnight" acht Eigenkompositionen von Sampaio, darunter zwei Arrangements zu Texten der deutschen Poetry Slammer Thomas Spitzer und David Friedrich. Sampaio (Gitarre), Luis André (Schlagzeug), Michael Lagger (Keyboards) und Max Ranzinger (Bass) spielen mit einer erstklassig besetzten, 13-köpfigen Bläsersektion, darunter Saxophon-Professor Heinrich von Kalnein, Trompeter Gerhard Ornig und Posaunist Karel Eriksson. Bei zwei Nummern sind Elina Viluma und Ursula Reicher als Sängerinnen zu hören. Eingerahmt wird das Album vom „Solo for Zagreb" am Anfang und dem „Hessischen Waltz" am Ende, die jeweils von Sampaios Zusammenarbeit mit dem kroatischen bzw. hessischen Rundfunkorchester inspiriert wurden.
... und elektronisch erweitertem Trio
Auf CD Nr. 2, der Trio-CD mit Gustavo Boni am Bass und Luis André am Schlagzeug, spielt Sampaio Gitarre, Posaune - und eine Loop Station. „Die Ausgangsfrage war, wie kann ich meine beiden Instrumente Gitarre und Posaune so ins Trio integrieren, dass wir die Nummern auch live spielen können", sagt Sampaio. „Ich bin dann auf die Loop Station gekommen und habe mir eine gebrauchte gekauft. Es war sehr viel Arbeit, die Möglichkeiten des Geräts auszuloten." Sampaio ist ein Tüftler, der seine Ideen mit Eifer und Konsequenz umsetzt. Gemeinsam mit Boni und André hat er an der Trio-Version seiner Loop-Stücke gearbeitet und die neuen Nummern auf etlichen Konzerten gespielt, bevor es im Februar 2018 ins Studio der Kunstuniversität Graz ging. Von der Studioarbeit gibt es einige Videos auf Sampaios YouTube-Channel.
„Ich habe bei meiner ersten CD-Produktion in Österreich 2013 ein tolles Team gefunden, mit dem ich seither zusammenarbeite", sagt Sampaio, „allen voran die Tontechniker Ulrich Katzenberger und Werner Angerer." Die CD-Aufnahmen für das Doppelalbum zehrten trotzdem an Sampaios Kräften: Einerseits, weil er im Studio als Komponist, Gitarrist, Dirigent und Produzent in Personalunion fungierte, und andererseits weil er nach den Studio-Aufnahmen jeden Abend mit der Showband „Funkaholics" als Posaunist und Gitarrist auf der Bühne stand.
Die Mühe hat sich gelohnt. Erste Kritiken des 2019er-Albums sind wieder im 5-Sterne-Bereich angesiedelt. Und auch Emiliano Sampaio ist mit dem Ergebnis zufrieden: „Meine Alben davor waren musikalische Versuche. Jetzt aber weiß ich, was ich mit meiner Musik zum Jazz beitragen kann", sagt der Komponist und Musiker selbstbewusst. Schon im Mai 2019 wird der nächste Streich folgen: Dann erscheint die CD „Passagem", bei dem das Meretrio mit Heinrich von Kalnein an Saxophon und Flöten kollaboriert. Es wird sicher nicht das letzte Album sein, auf dem Multitalent Emiliano Sampaio seine sprudelnden Ideen in Musik gießt.
Im Internet http://emilianosampaio.com
Emiliano Sampaio auf YouTube: https://www.youtube.com/user/emiliassss/videos
Emiliano Sampaios Musik auf Soundcloud: https://soundcloud.com/emilianosampaio
Werner Schandor
Stand: Februar 2019
(*) Update 2021
Keine zwei Jahre sind seit dem ARTfaces-Porträt vergangen, und schon liegen wieder zwei Alben von Emiliano Sampaio vor: „Music for Large Ensembles, Vol. II" aus dem Jahr 2020. Und ganz neu im Gepäck: „Choros", das 2021-Album vom Meretrio. Anlässlich der CD-Veröffentlichung hat Barbara Belic dem Musiker, Komponisten und Arrangeur eine Sendung in ihrer Reihe „Das rote Mikro" auf Radio Helsinki gewidmet. Hier gibt's die Sendung zum Nachhören >>
März 2021