Die Beobachtung der Nebenschauplätze
Die Schauspielerin Vera Hagemann beobachtet gerne und wandert zwischen den Welten
Kindheit
1979 geboren und aufgewachsen im Berlin des Ostens (Deutsche Demokratische Republik/DDR), lebte die Diplomatentochter Hagemann mit ihrer Familie eine Zeit lang in Italien und drückte dort mit anderen Diplomatenkindern die Schulbank. Das Land, die Leute und die Sprache konnte sie in dieser Zeit nur oberflächlich kennenlernen. Erst viel später, als es die DDR nicht mehr gab, kam die Reflexion darüber: Einerseits war da ein Staunen über die Vielfalt und die fast filmischen Kulissen der römischen Prunkstraßen, Kathedralen und Plätze und andererseits eine Irritation, da die Ränder allerorts mit Bettlern markiert waren. Diese enorme Armut neben diesem Reichtum, diesen Kontrast des Lebens, kannte sie bislang nur aus Märchen. Das prägte sie und wurde zu einem ihrer „ersten großen Bilder". Als die Familie nach Berlin zurückkehrte, begann die Wendezeit und damit in der Folge die Vereinigung Deutschlands: Nichts war mehr wahr, was bis dahin immer wahr gewesen war.
„Ein ganzes Land hat aufgehört zu existieren. Es ist verschwunden und ich war mittendrin. Vieles von dem, was ich bereits aus der Fremde kannte, hat sich plötzlich auch hier breit gemacht: 20 Sorten Erdbeerjoghurt zum Beispiel und auch dieses Märchen von Armut und Reichtum", erinnert sich Hagemann. „Ich hatte tausend Fragen, aber es war keiner von den Vertrauten, den Erwachsenen mehr da. Die waren paralysiert oder mit der Verarbeitung oder mit dem Kampf um eine neue Existenz beschäftigt. Ich hab damals - glaub ich - meine Heimat verloren, und damit war auch die Kindheit erst einmal weg."
Transitzone
„Wut, Enttäuschung, Alleingelassen-Sein, Punks, besetzte Häuser, Autonome, Musik der 80er, Freaks, Szenekünstler und immer wieder Theater, Theater, Theater, und erste eigene Wohnung, erste eigene Kneipe mit Freunden, Abitur. - Das sind Stichworte, um diese Zeit zusammen zu fassen."
Im Februar 1999 entschied sich Hagemann nach „zermürbenden Überlegungen", was sie mit ihrem Leben beruflich anstellen sollte, für den „eigentlich unrealistischen Versuch", die Aufnahmeprüfung an einer Schauspielschule zu bestehen. Im September 1999 begann für sie die Ausbildung zur Schauspielerin an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy" in Leipzig.
Dort lernte sie die ersten Grazer KollegInnen kennen, zu denen Wolfgang Lampl (Jimi Lend) und Barbara Kramer gehörten. Doch bevor sie sich in Graz wiederfand, machte sie sich - wie Hagemann es selbst bezeichnet - auf eine zweite große Suche und Reise: „Nach meinen ersten zwei Jahren im Beruf, am Staatsschauspiel Dresden, habe ich gemerkt, dass ich so nicht arbeiten kann. Ich bin kein gutes Tool, so funktioniere ich nicht. Es war die richtige Richtung, aber nicht der richtige Ort, ich brauchte neue Bilder."
Sie fand und sammelte viele mögliche Bilder: „Ich habe aber nirgends dazugehört. Ich bin zum Betrachter geworden, zum Lauscher, zum Zuschauer. Ich war draußen, aus ziemlich allem ..."
Irgendwann landete sie in weiterer Folge bei Verwandten in Mülheim an der Ruhr und lernte den Theaterregisseur Roberto Ciulli kennen, war überrascht von seinen ungewöhnlichen Produktionen und Produktionsprozessen. Sie begleitete dieses „Theater an der Ruhr" ein Jahr lang als Hospitantin.
Andere Menschen in ihren Prozessen zu entdecken und dabei zu erkennen, wie unentdeckt man selbst ist, sein kann, bleiben kann, auch das war prägend für ihren weiteren Werdegang. „Wie man die Welt wahrnimmt, das bildet deinen Charakter, das ist immer der Anfang. Dann versucht man, den ganzen Details und den Informationen einen Sinn einzuhauchen. Dann erzählt man sich Geschichten, um sie in ein größeres Bild einzubetten, und das bestimmt dann wieder, was man wahrnimmt, überhaupt wahrnehmen kann. So geht das immer im Kreis und verändert sich doch stetig. Das ist es, woraus ich schöpfe, wenn ich auf der Bühne stehe."
Hagemann erzählt gern Geschichten, aber weniger die eigene als viel mehr die der anderen: Sie hat viel von den Menschen gesehen in dem vielen Streunen, Suchen und Entdecken an verschiedenen Orten, in verschiedenen Situationen und zu verschiedenen Zeitpunkten.
Im Herbst 2005 folgte sie spontan einer Einladung der „little drama boyz" (allen voran Wolfgang Lampl und Johannes Schrettle) nach Graz, um im Stück „Nestwärme I-IV°" im FORUM STADTPARK mitzuwirken.
In Folge hat die Verknüpfung verschiedener Umstände in Graz private und berufliche Tore und Türen geöffnet, und so gründete sich 2007 die „zweite liga für kunst und kultur"
Erste (zweite) Heimat
„Dem Kunstraum Graz hat sich die ,zweite liga für kunst und kultur‘ längst eingeschrieben. Mit Konsequenz behaupten sich Barbara Kramer, Vera Hagemann, Christina Lederhaas, Klaus Meßner und Johannes Schrettle als Kollektiv, das nicht nur ziemlich verschiedene Zugänge zur Performance hochhält, sondern auch ein Text- und Reflexionsniveau, das im weiten Feld kollektiver Stückentwicklung Seltenheitswert hat", schrieb Hermann Götz 2015 in der Wochenzeitung „Der Falter".
Hagemann selbst erzählt, wie mühselig, aufreibend und auch einsam diese Prozesse manchmal waren: „Wir haben uns wenig geschenkt, und Erschöpfung aneinander ist eine große Gefahr. Ich wollte unbedingt verstehen, wie wir uns als etwas Gemeinsames denken können, und vielleicht war ich ein großer Störenfried im Kampf um dieses Verstehen."
2011 folgte Hagemann Schrettle als Theater/Performance-Beauftragte ins Programmgremium des FORUM STADTPARK. Unter anderem entwickelte sie hier mit Patrick Wurzwallner, Arne Glöckner und Schrettle ein performativ-musikalisches Serienformat, das unter dem Namen „Nights im Bunker", die letzten vier Jahre, monatlich und mit unterschiedlichen Gästen aus Musik/Performance „die Vorgänge und Prozesse des Hauses, der Welt und dem ganzen Rest aus der Perspektive von Menschen erforschte, die keine Außenwelt kennen, da ihre Welt ausschließlich in einem Bunker stattfindet."
„Eine schnelle Mystery-Serie, die mit heißer Nadel in die Rille zwischen experimenteller Musik, Installation und Performance kratzt. Die Apokalypse als One-Night-Stand", wie sie es selber nennen.
In all ihren Arbeiten probierte die Künstlerin sehr unterschiedliche formale Zugänge aus: Interventionen im öffentlichen Raum („Die Chronik der vorbeilaufenden Ereignisse"), Experimente mit Freiheit („frei nach Patrick Swayze"), Laboratorien mit ArchitektInnen, die Moderation der Preisverleihung des Filmfestivals „Diagonale", „Bohren in Welt" mit Comic-Künstlern (Tonto), Sommertheater-Musical, eine Heiner-Müller-Produktion mit Ernst M. Binder und nicht zuletzt die Band-Formation „Familie Geschrey" - Hagemann wandert zwischen Welten hin und her und beobachtet, was für viele unbemerkt bleibt. Gemeinsam mit anderen, die anders sind, untersucht sie Schauplätze des Lebens: Im Zentrum all ihrer Arbeiten steht für sie der Mensch, und das, was ihn zum Menschen macht, was ihn antreibt, was ihn kaputt macht. „Es geht darum, jene Welt zu entdecken, auszuhalten und zu gestalten, die den Menschen zu dem macht, was er eben jetzt gerade ist", unterstreicht sie. „Insgesamt kann man sagen: Seitdem ich in Graz lebe, bestimmt das Arbeiten mein Leben. Viel Arbeit, viel Kollektives - das klingt doch ein bisschen nach Osten oder?", sagt Hagemann und lacht.
Vielleicht Transitzone2, in jedem Fall jetzt:
Heuer wird sie als Artist-in-Europe-Stipendiatin des Landes Steiermark in Brüssel unterwegs sein. Der Projekttitel lautet „Briefe aus der Fremde - eine Performance über die Kunst des Verweilens".
http://zweiteliga.weblog.mur.at/
März 2016
Petra Sieder-Grabner/Vera Hagemann