Zwischenräume in Orten und Nichtorten
Die gebürtige Osttirolerin Zita Oberwalder spürt in ihren Fotografien poetisch der Geschichte nach, auch wenn die Spuren der Vergangenheit nicht immer an der Oberfläche liegen.
Wenn man mit der 1958 in Leisach in Osttirol geborenen Künstlerin ein Gespräch führt, kommt immer wieder ihre große Leidenschaft für ihre Arbeit durch. Oberwalder schloss in Lienz und Innsbruck die Ausbildung zur Fotografin ab, legte in Graz die Meisterprüfung ab und wandte sich 1985 der künstlerischen und der Architekturfotografie zu. Ihre erste Ausstellung hatte sie in Norwegen im Rahmen eines Arbeitsaufenthaltes in Oslo. Damals entstanden auch ihre ersten Reiseberichte, in denen sie das Geschehen rund um sich herum fotografisch und schriftlich festhielt und feststellte, dass „dieses Geschehen von außen hereinkommt in die Geschichte" und somit auch zu einem Teil des historischen Ganzen werde. Diese Erkenntnis prägte und prägt ihr künstlerisches und fotografisch dokumentiertes Leben: Denn sie ist stets auf der Suche oder am Finden gesellschaftspolitischen Themen, den Auswirkungen sozialer Zustände, politischer Systeme oder historischer Probleme und auch nach geografischen Besonderheiten, die sie gewissenhaft, hintergründig und tiefenscharf mit ihrer Kamera festhält, um daraus eine eigene Geschichte zu erzählen. Gerne bewegt sie sich dabei im Niemandsland, lichtet Zwischenräume ab und stellt so einen Zusammenhang zwischen Gegenwart und Vergangenheit her.
Die Fama ihrer Fotografien unterstreicht oder ergänzt sie mit Skizzen, Tagebuchnotizen und Zitaten. In ihrem fünfteiligen Fotoessay „The Ovid Project", an dem sie fünf Jahre lang arbeitete, behandelt sie das Thema Exil am Beispiel Ovids. Dafür folgte sie dem „bekanntesten Exil-Poeten" in seinen Exil-Ort Tomis (heute Constanta, eine Hafenstadt in Rumänien), „um in verkehrter Reihenfolge den Weg des Dichters bis zu seinem Geburtsort Sulmona [Stadt in der italienischen Provinz L'Aquila] zu bereisen, zu rekonstruieren, zu untersuchen und neu zu interpretieren. Von einem dokumentarischen wie auch persönlichen Standpunkt aus werden somit Bilder entwickelt." Die Ausstellung zum Ovid-Projekt fand im Mai 2016 in Constanta statt.
Ihr Projekt „Hotel Europa" startete sie während eines Rechercheaufenthalts in Nordirland, denn in Belfast befindet sich das Hotel Europa, das als das am öftesten bombardierte Hotel Europas bekannt ist. Während ihres Romaufenthalts setzte sie ihre Spurensuche nach einem geschichtlichen Europa, einem alten und neuen Europa, fort. In ihrer langjährigen Arbeit am „Hotel Europa" beschäftigt sie sich mit Fragen über Grenzen, Nachbarschaften und Territorien. Die Bilderserie dazu reicht von einer Aufnahme aus Ostia - auf der ein junger Mann in einem Camouflage-Shirt an ein Geländer gelehnt aufs Meer blickt, während im Vordergrund des Bildes ein Pfosten mit der Aufschrift „Danger" zu lesen ist -, über kleinformatige Bilder, die sie mit dem Titel „The photograph as a walker" versehen hat, bis hin zu Aufnahmen aus Bad Eisenkappel an der kärntnerisch-slowenischen Grenze oder Bildern aus Rom. Obwohl sie „Hotel Europa" schon in Ausstellungen - zuletzt im April 2016 in Tirol - zeigte, geht das Projekt weiter. Im Rahmen ihres Atelier-Auslandsstipendiums 2016 in der tschechischen Stadt Pilsen ist „Hotel Europa" um eine weitere Nuance zum Thema einer „verdrängten oder verschwundenen" Geschichte reicher geworden. Inspiriert von Ingeborg Bachmanns Gedicht „Böhmen liegt am Meer", verknüpft mit William Shakespeares „Wintermärchen" (Polixenis, der König von Böhmen) begab sie sich ins Grenzgebiet des ehemaligen Sudetenlandes, eines Landstrichs, der eine bewegte und grausame Geschichte zu erzählen vermag. „Ich suchte nach Relikten der verschwundenen Dörfer des ehemaligen Sudetengebiets", sagt Oberwalder. Denn nach der Nazi-Herrschaft setzte die tschechoslowakische Exilregierung die sogenannten Beneš-Dekrete um, deren Beschluss eine Reaktion auf das Münchener Abkommen der Großmächte (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) 1938 war. Aufgrund dieser Dekrete wurden alle Menschen deutscher Herkunft, die nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmte staatliche und bürokratische Bedingungen nicht erfüllen konnten, aufgefordert, unverzüglich das Land zu verlassen. In der Folge kam es zwischen 1945 und 1946 zur teils recht brutalen Vertreibung von drei Millionen Sudetendeutschen. Oberwalder suchte nun das Verborgene auf, um es mit ihrer Kamera festzuhalten. Es entstand ein Fotoessay mit dem Titel „phantom limb" (Phantomschmerz), zu dem es eine Ausstellung in Pilsen gab. „Diese erfahrene österreichischen Fotografin hatte sich für ihr Projekt in Pilsen kein kleines Ziel gesetzt - die Gegenwart in der Vergangenheit aufzunehmen, wo unsere Grenzen liegen festzustellen - die physischen, psychischen, örtlichen ...", schreibt Tereza Svášková, Koordinatorin des Programmes der Künstlerresidenzen OPEN A.i.R., DEPOT2015, im Eingangstext des Katalogs. „Das Projekt wird fortgesetzt, und in dem geplanten Katalog der Arbeit ,Hotel Europa‘ wird Pilsen und das Grenzgebiet Böhmen einen wichtigen Teil einnehmen", sagt die Künstlerin.
Oberwalder reist viel umher, meist gezielt auf der Suche nach Spuren einer Geschichte. In Madrid wollte sie die Stadt nach den Terroranschlägen fotografisch erspüren und in Belfast den dort herrschenden künstlichen Frieden auf Zelluloid festhalten. Ihre zweite Leidenschaft, die Architekturfotografie, lässt sich ihrer Meinung nach leicht mit der künstlerischen Fotografie vereinbaren. In jeder Ausstellung lädt sie das Publikum zum Mitreisen in die Geschichte ein. Man darf gespannt sein, wohin sie die nächste Reise führt.
Petra Sieder-Grabner
November 2016