Das Rätsel sehen
Das Archaische der Schmuckkunst-Objekte von Wolfgang Rahs liegt in ihrer Bearbeitung.
„Die Kunst, das ist nur noch ein Wort, dem nichts Wirkliches mehr entspricht.“ Schreibt Martin Heidegger. Und weiter: „Es mag als eine Sammelvorstellung gelten, in der wir das unterbringen, was allein von der Kunst wirklich ist: die Werke und die Künstler. […] Um das Wesen der Kunst zu finden, die wirklich im Werk waltet, suchen wir das wirkliche Werk auf und fragen das Werk, was und wie es sei.“
Dann wollen wir, ohne regelrecht Fragen zu stellen, mit unserer Befragung beginnen.
Beim Fest zu seinem 60. Geburtstag im Jahr 2012 setzte Wolfgang Rahs eine Giraffen-Skulptur im Tirolergraben, einem Wald in Vorau, aus. Bei seiner jüngsten Ausstellung „Archaischer Schild“ in der kunst.wirt.schaft Graz ist die Giraffe schon am Eingang zu bewundern. Ihr Fell trägt Stigmata: Munchs Schrei und Munchs Madonna. Die Moderne hat die Giraffe befallen wie viele junge Menschen, vor allem Frauen, die Bulimie. Sie möchten selbst zu Giraffen werden, mit langen, spindeldürren Gliedern. Vorstufe zu dieser Skulptur war ein stark stilisierter Hirsch, vor dem ein weibliches Modell mit nach oben offenem Halsschmuck posierte.
“She wears an Egyptian ring/ That sparkles before she speaks”, singt Bob Dylan. (Sie trägt einen ägyptischen Ring/ Der funkelt, bevor sie spricht.) Dieses Funkeln vor dem Sprechen ist eine Poesie, die im Ding selbst liegt, sich aber auf die Trägerin überträgt. Für Wolfgang Rahs ist Schmuck „ein Projektor, ein Vehikel, das Inhalte projiziert.“ Wobei ihn weniger die Inhalte interessieren als der Prozess, der zwischen Schmuckgestalter und Schmuckträger stattfindet. Schwer zu bestimmen, was in diesem Prozess vor sich geht. Das Ergebnis bleibt „nach oben offen“.
„Alle Werke haben dieses Dinghafte. (…) Das Steinerne ist im Bauwerk. Das Hölzerne ist im Schnitzwerk.“ Was Heidegger hinzuzufügen vergessen hat: Das Edelmetallische ist im Schmuckwerk. Und bei den Schmuckstücken von Wolfgang Rahs haben wir es bekanntlich mit Kunstwerken, nicht mit gewerbsmäßigem, marktgängigem Dekor zu tun. Das Archaische liegt in der Bearbeitung, die bewusst rudimentär oder – wie der Künstler sagt – primitiv ist. Hier wird gefeilt, gesägt, gelötet, geschmiedet, genietet – alles auf dem soliden, goldenen Boden des Handwerks. Und auch der Boden (der Waldboden) selbst wird abgeformt. Der Schmuck emanzipiert sich vom menschlichen Körper. Er will mitunter auch gar nicht getragen werden. Wie das Objekt „Das Jenseits außer und in uns“. Es handelt sich um ein abgeformtes Bruchstück einer Ziegelmauer mit Zinnbügel. Nur die Mauer, der es entnommen wurde, könnte es tragen. Als eine Art Menetekel der Vergänglichkeit. Abformen ist also kein schlichtes Abbilden. „Das Werk stellt als Werk eine Welt auf.“
Vor ungefähr 1980 Jahren hält Jesus seinen Einzug in Jerusalem auf einem Esel, ganz ohne das Gepränge eines vermeintlichen „Königs der Juden“. Laut den Evangelien, deren geschichtliche Treue wir einmal beiseite lassen wollen, erregt der Religionsstifter durch diese provokant bescheidene Geste offenen Unmut bei den Pharisäern. Damit beginnt sein bewusster Untergang. Es ist – wie der Künstler sagt – eine „Performance zum Tod“. Wolfgang Rahs bestückt seine Zeichnung davon mit einer schlichten Silberplatte, die ganz altertümlich mit dem Meißel ziseliert ist, und mit vergleichsweise billigen Edelsteinen wie Amethyst und Bergkristall. (Amethyst bedeutet übrigens „dem Rausch entgegenwirkend“. Der Glaube, dass das Tragen eines Amethysts die Wirkung des Weins außer Kraft setzen kann, kann gerne auf seine Gültigkeit überprüft werden.) Rahs sieht diese Arbeit gleichzeitig in der Tradition eines frühmittelalterlichen Messbuchs, in dem oftmals die wertvollen Steine herausgebrochen wurden, und der Art brut.
Der Eros als wahrscheinlich stärkster Antrieb des Menschen wohnt abstrahiert in manchen dieser Stücke. Eine Skizze zeigt einen Frauenakt auf Knien, der sich in einem Prozess, den wir nur nachvollziehen können, wenn wir den Ausgangspunkt kennen, schließlich in Geschmeide verwandelt hat.
Der „Archaische Torso Apolls“ hat bei Rilke keinen Kopf, aber gerade deswegen „keine Stelle, die dich nicht sieht.“ Und er spricht mundlos: „Du musst dein Leben ändern.“ Das Schmuckwerk von Wolfgang Rahs lese ich in seiner Archaik als Aufforderung, zu den Ursprüngen zu gelangen – nicht zurückzukehren, denn am Ursprung waren wir noch nie. Die Kunst selbst ist laut Heidegger ein Rätsel. „Der Anspruch liegt fern, das Rätsel zu lösen. Zur Aufgabe steht, das Rätsel zu sehen.“
Ich habe schon einmal einen „Torbogen“ des Künstlers um den Hals getragen. Und für einen Moment war mir – vielleicht erfinde ich das auch nur in der Erinnerung –, als könnte ich durch diesen Torbogen von dieser Welt in ein Paralleluniversum gelangen, als wäre mein Kopf, der im Schmuckstück steckte, schon ein Stück weit dort …
Günter Eichberger
Stand: April 2016