Überqualifiziert unterm Eisenfresser
Ein Atelierbesuch bei der Bildhauerin und Malerin Andrea R. Tomitsch
Wer in den 1970er Jahren die Bildhauerei bei Josef Pillhofer besucht hat, der verlässt die Schule orientiert an der klassischen Moderne, also vertraut mit gestalthafter Tektonik (Wotruba: Mensch als trotzige Ruine), Volumen (Laurens: äußerste Spannung der Form), Verwandlung (Picasso: Matchboxauto als Pavianschnauze), Generalbass eines Formenensembles („Balzac" von Rodin, Brancusis Tiere, Henry Moore ...). Auffächerung von Formen im Raum (Boccioni: Schaut‘s einfach auf die Rückseite des italienischen 20 Cent Stücks!) kurzum: „Kein Spatz fällt einem vom Ast", ohne dass man ihn nicht kompositorisch erlösen könnte. Um es in ein Bild zu fassen: Bei einer guten Skulptur verhalten sich alle Teile zueinander wie die Reime in einem Gedicht, sind also stringent aufeinander bezogen, sofern man nicht gerade ein Gegenteiliges zu seinem Thema gemacht hat, denn jegliches künstlerisches Vorhaben sollte möglichst exemplifiziert zugespitzt werden. („Klare Ablesbarkeit der Form!")
Man ist also gerüstet für einen Anspruch ästhetischer Dauerhaftigkeit („Nehmt‘s Widersprüche positiv auf und begebt‘s euch nicht aufs Feld der tausend Möglichkeiten.") und kommt nun in eine Welt, in der alles in widersprüchliche Bewegung geraten scheint. Vor allem politisch-gesellschaftlich, was ja auch kollateral die Kunst verwirbelt. Der Ausdruck der Zeit ist also experimentell und aktionistisch. Der „steirische herbst" ist noch jung. Die klassische Moderne ist zwar nicht ganz verschwunden, sondern durchaus (mehr oder weniger) integriert (z. B. die junge Gruppe mit Hannes Schwarz, Günter Waldorf ...), aber eben vertreten von der Kriegsgeneration.
Wer jetzt also, Ende der 1970er Jahre, die KGW-Schule verlässt, muss sein Repertoire erweitern und braucht einen langen Atem. Über beides verfügt Andrea R. Tomitsch.
1985 gründet sie mit Rewo und Santoni Niessl die Künstlergruppe LeobArt. Sie arbeitet als Grafikerin in der Obersteirischen Druckerei und unterrichtet auf der VHS in Leoben, wird Kreativleiterin der Behindertenwerkstatt der Lebenshilfe.
Fotografie und Video
Andrea R. Tomitsch erweitert auch ihre künstlerischen Ausdrucksformen um Fotografie und Video. Sie wird Filmproduzentin. Es folgen Preise: Sonderpreis für den besten Experimentalfilm („Im Focus"), zweiter Preis bei der Landesmeisterschaft der Amateurfilmer, Preis der internationalen Film- und Videofesttage in Krems. Preis beim 23. Graphikwettbewerb der Kammer der gewerblichen Wirtschaft (Grafik und Video). Ankaufspreis der „Kleinen Galerie" in Wien. 1995 Computergrafik und Videofilm zum Thema „Frauen imaginieren Gott" (Kulturzentrum Minoriten). Gleichzeitig und neben zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland studiert Andrea R. Tomitsch Psychologie in Graz, bekommt zwei Söhne, macht das Diplom zur Mediendesignerin, eine klassische Gesangsausbildung und Jazzgesang, außerdem entstehen Zeichentrickanimationen z. B. für das Musikvideo „Falling From Grace" (Regie: Erwin Leder) und Computergrafik, und sie gründet die Musikgruppe „ReAl ART" und das „ART unlimited project"...
Im Atelier
Ganz genau gesagt treffe ich Andrea R. Tomitsch im Leobner Stadtteil Leitendorf, aber nahe der Grenze zum obersteirischen Rätsel des Isidor Ducasse in Donawitz: zentral das Fußballstadion (Hochofenballett!), links ein Mahnmal gegen den Krieg von Fritz Wotruba aus den 30er Jahren, rechts, neben einer grimmigen Felswand, die Westernstadt „Golden Eagle". So tauchen schon am Weg liebe alte Schatten auf und Verwunderung darüber, wie viele Lokale mittlerweile zugesperrt haben. Im Atelier von Andrea R. Tomitsch findet sich ein sehr guter Überblick über ihre künstlerische Entwicklung. Kubische Skulpturen aus den Anfängen, auch Aktzeichnungen (Naturstudium war damals der zweite wichtige Weltzugang, nicht zu verwechseln mit Realismus, sondern ein wirkliches Erforschen von organischen Baugesetzen. („Arbeiten nicht nach, sondern wie die Natur", sagte Paul Cèzanne). Dann: Abstrahierende Malerei (also wirkliches Abstrahere einer augenscheinlichen Wirklichkeit oder Verdichtung einer emotionell atmosphärischen Wahrnehmung). Diese abstrahierende Malerei war für Andrea R. Tomitsch natürlich auch eine Befreiung von der Dominanz des Formalen der tektonischen Bildhauerei, wo sich die Persönlichkeit fast einzig auf die Wahl und Entwicklung einer Raumkonzeption, der Klärung der Form und auf den Erhalt der Arbeitsgänge beschränkt. („Modelliert‘s offen, poliert‘s nicht eure Unvollkommenheit.") In der Malerei von Andrea R. Tomitsch gibt es nun auch gebrochene Farben (das Zwielichtige in seiner besten Form), und auch der Duktus orientiert sich an der Arbeitsbewegung, der Handschrift also, nicht wie in der Bildhauerei, wo man unter Duktus in der Hauptsache die Abwandlung einer Grundform versteht. Doch die Farbvolumina bleiben bildhauerisch gewichtet.
Abstraktion - anschauliche Wirklichkeit - psychologische Situation
Jetzt aber ist Andrea R. Tomitsch wieder verstärkt zur anschaulichen Wirklichkeit zurückgekehrt, und der Grund ist leicht nachvollziehbar. Denn der abstrakten Malerei nähert sich der naive Betrachter meist wie einem Rohrschachtest und will ins Bild nun eine eigene Rätsellösung hinein urgieren. Und was da oft ganz aufgekratzt „gesehen" wird, köpfelt meist ganz arg an der künstlerischen Intention vorbei. Ein gutes abstraktes Bild aber soll ein lebensfähiges (weil vollständig innerhalb bildnerischer Formengesetze) vorbegriffliches Ganzes schaffen, das auch die eigene Gestalt des Malers integriert. Vorbegrifflich meint, dass sich die Gestalt eben nicht in einen vertrauten Begriff („Jö, a Katzerl!") auflösen lässt. Und die eigene Gestalt ist quasi das individuelle, formale Grundrepertoire, das einem immer in die Handschrift fällt.
Andrea R. Tomitschs Rückkehr zur augenscheinlichen Wirklichkeit, im konkreten Fall Porträtgesichter, schafft nun eine ganz andere Kommunikationsbasis mit dem Betrachter (auch mit den Porträtierten). Bei einem Foto - das kann noch so unähnlich sein („ganz fremd schaut er aus") - wird man nie daran zweifeln, dass es sich um den Dargestellten handelt. Bei einem gemalten Bild urteilt man hingegen zweifelsfrei: Das ist er, oder das ist er nicht. Auf den Porträts von Andrea R. Tomitsch sind jedenfalls alle Personen sofort erkennbar, das aber ist nicht ihr eigentliches Ziel, sondern sie möchte dazu auch noch die Person in charakteristischer Augenblicklichkeit zeigen. „Es geht mir um ein unversehrtes inneres Leuchten des Menschen." Und diese Bilder zeigen das auch und entfalten wahrlich solitäre Wucht!
Aber auch noch ein dritter Zugang ist in den neuesten Arbeiten von Andrea R. Tomitsch präsent, nämlich bei Bildern, die eine psychologisch aufgeladene Situation zeigen, meist in einer Dreierkonstellation. Dabei sind die Figuren wieder stark reduziert, um deren Verhältnisse exemplarisch zugespitzt festzulegen. Darüber unterhalten wir uns am längsten, nämlich darüber, wie weit eine Reduktion gehen kann, ob sie die Grenze zum Piktogramm überschreiten darf, also über das Verhältnis zwischen Typus und Signalzeichen, über die Verwendung der Farbe („Ich mische nur aus den drei Grundfarben"), über männliches und weibliches Denken. Und natürlich erinnern wir uns auch an die vielen Schulkollegen, die lebenden und die toten, die wenigen, die noch künstlerisch tätig sind, und die vielen, die man aus den Augen verloren hat.
Für die Zukunft zu wünschen wäre hierorts natürlich - wenn man schon über einen Städteverband Leoben-Bruck-Kapfenberg nachdenkt -, dass nicht nur Wirtschaft, Technologie und Tourismus im Fokus stehen, sondern eben auch Kunst. Denn schon Rilke wusste: „Was wir durch Teleskop und Mikroskop sehen, muss erst durch die fünffingrige Hand unserer Sinne gehen", um wahrnehmbar (= ästhetisch) zu werden. Und da ist es notwendig, dass man solche Künstlerinnen wie Andrea R. Tomitsch vor Ort hat und auch in ihrer Qualität und Bedeutung schätzt - sie nicht nur wahrnimmt, sondern auch aktiver in den Orientierungsdiskurs und Gestaltungsspielraum einbezieht. Also: Dem Vogel Strauß, den Leoben ja im Schilde führt, täte da ein bissl frischer Wind unter den Federn gut, damit er nicht bloß im Küchentopf von Kleopatra landet.
Web: http://andrea.tomitsch.net
Erwin Michenthaler
Stand: Mai 2015