Auf der Suche nach der unendlichen Linie
Gefährte und Geräte, Behausungen aller Art, Kraftwerke und Fabrikhallen beflügeln die geometrische Phantasie von Herwig Tollschein
Wer das Murtal zwischen Graz und Bruck nur von Bahn- und Autofahrten kennt, wird leicht versucht sein, es für herb und rau, für verschlossen und abweisend, einförmig und eintönig zu halten. Es braucht den zweiten Blick, die eine und andere längere Fußwanderung, um hinter den spröden Charme dieser Gegend zu kommen, die zugleich Fluss- und Gebirgslandschaft ist, Durchzugsraum und Siedlungsgebiet seit Menschengedenken.
Der Zeichner und Graphiker Herwig Tollschein ist in dieser Landschaft aufgewachsen; an ihren Talsperren und Talbecken, ihren felsigen Höhenzügen und bewaldeten Hügelkuppen, ihrem dichten Nebeneinander von Flusslauf, Straße und Bahntrasse, ihrem raschen Wechsel von Feldern und Siedlungen, Aulandschaften und Asphaltwüsten hat sich sein Raumgefühl, sein Sensorium für die Textur der Dinge gebildet. Auch wenn er mittlerweile in der Welt viel herumgekommen ist, auch wenn Stipendien ihm den einen und anderen Auslandsaufenthalt ermöglicht haben, ist er doch immer wieder hierher zurückgekehrt und hier heimisch geblieben.
In Pernegg, einer Zweitausendseelengemeinde unweit von Bruck an der Mur, steht Tollscheins Künstlerwerkstatt; seine künstlerische Arbeit indessen ist an diesen Ort, diese Region nicht gebunden. Wer in seinen Blättern, seinen Zeichnungen, Linolschnitten, Materialdrucken und Collagen etwas wie Lokalkolorit aufspüren möchte, kann lange suchen, ohne je fündig zu werden. Statt in Pernegg könnten sie ebenso gut in einer Millionenmetropole entstanden sein, statt in unseren Breiten ebenso gut in der südlichen Hemisphäre.
Tollschein ist kein Landschaftsmaler, kein Porträtist seiner nächsten Umgebung und ihrer Bewohner. Artefakte interessieren ihn seit eh und je viel stärker: Gefährte und Geräte, Behausungen aller Art, Kraftwerke und Fabrikhallen beflügeln seine geometrische Phantasie. Ein aufgeschlagenes Buch neben einer Blumenvase wird ihn nicht zu einem Stillleben verleiten; eine alte Reklame für Haarshampoo hingegen setzt, trifft sie im passenden Moment auf eine Industriegraphik von anno Schnee, bei Tollschein einen schöpferischen Prozess in Gang: Aus reklametauglichen Haarsträhnen und schulbuchtauglichen Kränen entsteht in seiner Werkstatt, seinem künstlerischen Laboratorium „kranhaar". Das Wort, Titel eines 2013 erstmals gezeigten Zyklus von Druckgraphiken, erinnert an surrealistische Lyrik. Wie die Surrealisten weiß auch Tollschein scheinbar Unvereinbares zu vereinen, verfügt auch er über eine enorme Assoziationskraft, die aus alten Klischees neue Bildideen gewinnt, aus ganz banalem Werkstoff und Weltstoff in immer neuen Anläufen ein schillerndes Paralleluniversum errichtet.
Gezeichnete Weltmaschinen
Der oststeirische Bauer Fanz Gsellmann, zu Lebzeiten als Sonderling belächelt, nach seinem Tod zum Genie erklärt und in gleich zwei Romanen verewigt, arbeitete, wie man weiß, jahrzehntelang in zäher, stummer Klein- und Kleinstarbeit an einer Weltmaschine, einem um sich selbst kreisenden, vollkommen zweckfreien Gebilde, zusammengefügt aus Altwaren, Trödel und Plunder.
Ähnliches unternimmt, auf seine Weise und mit seinen Mitteln, auch Herwig Tollschein. Nicht wenige seiner zeichnerischen und druckgraphischen Arbeiten der letzten Jahre muten wie gezeichnete, gedruckte Weltmaschinen an: In die dritte Dimension übertragen, würden sie wohl ganze Zimmer ausfüllen; aufs Papier gebannt, in kleine, überschaubare Formate, lassen sie ihrem Schöpfer Spielraum für Weiteres, Neues. Jedes einzelne dieser Blätter verweist auf ein anderes und ist zugleich ein Versprechen, ist Momentaufnahme eines im Entstehen begriffenen, imaginären, sich ständig weiterverwandelnden Perpetuum mobile.
Wie seinerzeit der Bauer Gsellmann ist auch der Graphiker Tollschein ein passionierter und kundiger Flohmarktbesucher. Von dort trägt er alte Drucksorten, alte Fotographien nach Hause: Rohstoff für neue Arbeiten, neue Collagen, neue druckgraphische Experimente. Aus Dingen, die unsereins zum Müll werfen würde, etwa den Bruchstücken einer CD-ROM oder einer Vinylplatte, fügt er kreisrunde Druckstöcke zusammen. Heuer erst ist auf diese Weise ein neuer Zyklus von Materialdrucken entstanden, der sich, wie alle Zyklen des Künstlers, ad infinitum fortführen und variieren ließe. Tollschein hat die Arbeit daran bewusst abgebrochen, um nicht in einen Leerlauf zu geraten und ein Gefangener seines eigenen Materials, seines eigenen künstlerischen Verfahrens zu werden: die größte Gefahr für jeden, der auszieht, die unendliche Linie zu finden.
Kultur der Linearität
„Die Linie steht im Mittelpunkt von Tollscheins Arbeit, durch sie erwächst ein vielseitiges Spektrum von Kombinationen und Formen", bemerkt die Kunsthistorikerin Valentina Vlasic.
Quer durch die Zeiten und Sprachen ist der Begriff der Linie in hohem Maße Schlag-Wort geworden und Signalwort geblieben, aufgeladen mit vielerlei negativer Bedeutung: Die Demarkationslinie schwingt darin ebenso mit wie die Parteilinie, die Deadline ebenso wie die „schlanke Linie" als Wille und Wahn.
Eine Kultur der Linearität wird stets eine Kultur der Reglementierungen und Restriktionen sein. Bei Tollschein freilich gibt es nicht die eine Generallinie, der sich alle anderen unterzuordnen hätten; seine Linien bilden keine Hierarchien, bei ihm herrscht eine Gleichberechtigung, ein Gleichklang der Linien über weiteste Strecken: Sie spielen zusammen, sie harmonieren wie Wellen in einem Fluss. Der einen, den ganzen Bildaufbau prägenden Linie zieht er das Linienbündel vor, dem einen Kreis, der die Funktion des Ein- und Ausschließens erfüllt, eine Vielzahl konzentrischer Kreise, wie man sie an den Reliefs alter Schallplatten bewundern kann. Solche industriell gefertigten Reliefs üben auf den Künstler eine besondere Faszination aus; sie sind zu einem seiner Leitmotive geworden. Durch die Art und Weise, wie er sie druckgraphisch einsetzt, entsteht eine visuelle Musik, entstehen Blätter, die an manche Partituren neuer, experimenteller Musik erinnern: Der Tonträger wird hier zum musikalischen Zeichen.
Verfilmung, bitte!
Dass die Mürzzuschlager Kunstschule, an der Tollschein unterrichtet, ausgerechnet nach Arnold Schönberg benannt ist, passt denkbar gut ins Bild und zu seinen Bildern. Einen Teil der Woche ist er dort tätig, den andern Teil in Graz, als künstlerischer Begleiter einer Malwerkstatt für Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Die dadurch geschaffene materielle Basis ermöglicht es ihm, seinen künstlerischen Weg konsequent weiterzuverfolgen, ohne unliebsame Auftragsarbeiten annehmen zu müssen oder sich an irgendeinen vorherrschenden Geschmack anzupassen. Seine Kunst, die in einer Reihe von Einzel- und Gruppenausstellungen ihr Publikum, ihre Liebhaber gefunden hat, ist nicht auf vordergründige Weise „zeitgenössisch", und in all ihrer Verspieltheit, ihrem „raffiniert naiven Stil" (Walter Titz) nie gefällig: Weder taugt sie zur Verzierung bildungsbürgerlicher Wohnzimmer noch als unverbindlich moderne Kulisse für Politikerinterviews. Sie fügt sich weder in den sakralen Bereich noch in große, repräsentative öffentliche Räume, gut aufgehoben hingegen wäre sie auf der Kinoleinwand. Ja, Tollscheins graphische Arbeit verlangt, im Unterschied zu manchem literarischen Werk unsrer Tage, nach einer Verfilmung. Bleibt also zu hoffen (und zu wünschen), dass eines Tages ein experimentierfreudiger Trickfilmproduzent auf den Plan tritt und Tollscheins visuelle Musik, seine Einübungen in die Unendlichkeit, realisiert und zur Aufführung bringt.
Christian Teissl
Herwig Tollschein, geb. 1970 in Bruck an der Mur, lebt in Pernegg/Stmk.
Absolvent der Ortweinschule in Graz; zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland; arbeitet seit 2006 als Kunstschullehrer an der Arnold-Schönberg-Kunstschule für elementare, mittlere und höhere ästhetische Erziehung der Kunsthaus Mürzzuschlag GmbH und als Begleiter einer RANDKUNST-Malwerkstatt der Lebenshilfe in Graz.
Jüngste Aktivitäten: Beteiligung an der Gruppenausstellung „die künstlerinnen sind anwesend" im Grazer sowie Covergestaltung für die Zeitschrift „Sterz" (Nr. 107/08).