Was sich Haneke nie trauen würde
Mit seinem mehrfach ausgezeichneten Kurzspielfilm „Erdbeerland“ hat der gebürtige Grazer Regisseur Florian Pochlatko vor allem eines unter Beweis gestellt: Es ist höchste Zeit für einen abendfüllenden Spielfilm von ihm.
Das Leben als Jugendlicher in der Provinz: Lehrer, die beim Turnunterricht den Drill Sergeant geben. Schmallippige, bleiche Milchgesichter, die sich mit Marihuana, Alkohol oder harter Rockmusik die Birne zudröhnen. Erotisches sowie zärtliches Interesse für das andere Geschlecht entdecken, aber für Emotionen nicht nur nicht die geeigneten, sondern gar keine Worte finden - die erste enttäuschte Liebe, das Überspielen der Verzweiflung. Es sind klassische Zutaten, mit denen Florian Pochlatko seinen Kurzspielfilm „Erdbeerland" (2012), seine derzeit aktuelle Arbeit, zubereitet hat. Nur am Ende ist ein Gericht immer mehr als seine Ingredienzien - mit dem rund dreißigminütigen Streifen ist dem 28-jährigen Filmemacher ein beachtlicher Wurf gelungen.
Der Sohn des bekannten Filmproduzenten Dieter Pochlatko hat dafür unter anderem 2013 den Diagonale-Kurzfilmpreis und 2014 den Österreichischen Filmpreis für den besten Kurzfilm bekommen. Sogar Bundesminister Sebastian Kurz gratulierte ihm dazu „ganz herzlich". Derlei Grußbotschaften sind schnell vergessen. „Erdbeerland" allerdings werden Filmfreunde im Gedächtnis behalten. Wird so ein Werk im Normalfall als Talentprobe bezeichnet, bietet es sich angesichts der jetzt schon recht üppigen Filmographie von Pochlatko an, vom bisherigen Opus magnum zu sprechen. Das mag zwar bei einem Dreißigminüter als etwas hoch gegriffen anmuten, allerdings dreht Pochlatko Filmchen und Filme, seit er offiziell alleine mit dem Fahrrad auf der Straße unterwegs sein darf. Und sollte der junge Regisseur mit seinem ersten Spielfilm dereinst einlösen, was er mit „Erdbeerland" versprochen hat, dann kann es schon passieren, dass künftige Filmhistoriker irgendwann sein Frühwerk ausgraben. Etwa „Zombies" (2001), den Pochlatko als Teenager mit ein paar Freunden in den Sommerferien gedreht hat und sie dabei in die Rollen von an die dreißig verschiedene Untoten gesteckt hat. Vielleicht auch „Running Sushi" (2006), ein kurzer Streifen über einen zynischen Fernsehmacher, der den Selbstmord eines verzweifelten Boyband-Groupies inszenieren möchte. Auch Pochlatkos Videos für heimische Popbands wie Bunny Lake, Koenigleopold oder Fijuka können sich sehen lassen. Doch bevor in den Archiven gestöbert wird, ein nüchterner Blick auf den Status quo: Pochlatko steht an der Schwelle, ein wesentlicher Regisseur der österreichischen Filmlandschaft zu werden.
„Es heißt, mit dreißig sollte man seinen ersten Spielfilm angehen", meint er. „Da ist also noch ein wenig Zeit." Momentan ist er gerade dabei, Material und Ideen für den nächsten Kurzfilm zu sammeln und zu ordnen. Mehr als eine ungefähre Vorstellung, in welche Richtung es gehen könnte, hat er derzeit noch nicht. Aber der Film wird sich wohl um unser Ich-Bewusstsein, um die Verankerung unserer Identität drehen. Bei der Bestimmung seiner eigenen Identität ist es Pochlatko nicht immer leicht gefallen, sich - im positiven Sinn - von seinem Vater abzugrenzen: „Das große Problem war, dass die Leute nicht geglaubt haben, ich würde meine Arbeit selbständig machen. Oder ich musste Sachen hören wie: ‚Da hat dir eh der Papa alles gerichtet‘. Ein Professor etwa hat mir unterstellt, ich hätte einen Ghostwriter, den ich von meinem Vater zugeschanzt bekommen habe. Allerdings war das eher Thema in Graz oder auf der Uni in Wien, aber außerhalb der Branche oder über die Landesgrenzen hinaus ist es sowieso wurscht."
Weit über die Grenzen hinaus bekannt sind Filmemacher wie Michael Haneke oder Ulrich Seidl. Wenn nun „Erdbeerland" filmsprachliche Züge aufweist, die an diese beiden Granden des österreichischen Films erinnern, sollte das für einen 28-Jährigen nicht ehrenrührig sein. Schließlich studiert der in Graz, vielmehr im Rechbauerkino aufgewachsenen und heute in Wien lebende Steirer bei Haneke an der Filmakademie. Und hält ihn „für einen sehr guten Lehrenden", der diesen Job „ernst nimmt und sich extrem bemüht. Mir hat das sehr geholfen." Selbst wenn die beiden etwa in fundamentalen Fragen der Herangehensweise schon einmal anderer Meinung sind. So hat Pochlatko „Erdbeerland" mehr oder weniger ohne Drehbuch verwirklicht, hat den Film in eineinhalbjähriger, intensiver Arbeit mit einem hauptsächlich aus Laien bestehenden Schauspieler-Ensemble entwickelt. „Wenn man sich entscheidet, mit Laien zu drehen, dann muss man sich diesem Umstand anpassen. Und mehr auf seine Intuition hören, als strikt nach Drehbuch vorzugehen." Ein Ansatz, der aus jenen Tagen stammt, als Pochlatko noch mit seiner freien Theatergruppe im Grazer Theater am Ortweinplatz tätig war. Der Meister selbst, Haneke, ist da anderer Ansicht: „Wenn man improvisiert, so seine Meinung, nimmt man sich viel von der Freiheit, weil man nur auf das reagieren kann, was eben unmittelbar vorhanden ist. Haneke ist ein akribischer Vorbereiter. Für mich bedeutet aber gerade die Limitierung auf einen szenischen Rahmen, darin frei sein zu können."
Aber Pochlatko hat bei „Erdbeerland" nicht nur Durchhaltevermögen - neben dem Laienensemble war auch die Finanzierung eine Herausforderung -, sondern auch Mut bewiesen. Gerade, was die Schlussszene betrifft. Dass plötzlich Hans „Waterloo" Kreuzmayr auftaucht und verhindert, dass das Coming-of-Age-Drama als Tragödie mit Todesfall endet, wurde von nicht wenigen, erinnert sich der Regisseur, scharf kritisiert. Aber man tut Pochlatko damit unrecht: Ein liebeskranker Teenager, der todessehnsüchtig mit seinem Mofa durch die Nacht braust, einen Stern reißt und an der Landstraße in einem Erdbeerland zum Erliegen kommt, dabei aber nicht seinen letzten Atem aushaucht, sondern von einem ehemaligen Song-Contest-Teilnehmer, dessen Künstlername auf jenen Ort verweist, an dem Napoleon seine letzte Schlacht verlor, als Deus ex machina gerettet wird - das würde sich Haneke niemals trauen.
Tiz Schaffer
Stand: September 2014