"Sonst nichts los"
Oder: Was geschah seit Helmut Kaplans letztem Eintrag im Werkverzeichnis anno 2001
Schon die ersten beiden Einträge im Werkverzeichnis, das Helmut Kaplan irgendwann einmal online gestellt, im Jahr 2001 aber offenbar seinem Schicksal überlassen und seither nicht mehr aktualisiert hat, sind richtungsweisend. Unter „1985" findet sich da sowohl „PEST, kopiertes Comic-Heft (5 Seiten), Auflage 20 Stk." als auch „ARBEIT (1984), MC 60 min.". Richtungsweisend oder charakteristisch daran ist weniger die offensichtlich ungenaue Datierung - Helmut Kaplans spätere Arbeiten tragen, sind sie auch noch so kleinformatig, in der Regel Datumsstempel oder winzige handschriftliche Vermerke, die sie eindeutig zuordenbar machen.
Bewahrt hat sich Helmut Kaplan aus dieser Zeit aber jedenfalls - er stand damals kurz vor der Matura an der Grazer Ortweinschule - eine außergewöhnliche formale Vielseitigkeit und Offenheit: Musik ist ebenso Teil seines eigenwilligen Kosmos geblieben wie es grafische Arbeiten immer waren, die er von Beginn an als Comics bezeichnet hat. Ebenso bewahrt hat sich Kaplan eine explizite Do-it-yourself-Haltung, die schon aus den damaligen Werkbeschreibungen spricht (Beispiel: „kopiertes Comic-Heft"). Auch die Auflage weist durchaus in diese Richtung („20 Stk."). Sein nächstes Heft, das im Jahr darauf erschien und den schönen Titel „Erdöl, Revolte im Weltall" trug, brachte es auf 13 handkopierte Seiten und eine Auflage von nur noch zehn Stück.
DIY lag damals in der Luft. Punk auch. Mitte der Achtziger spielte Kaplan Schlagzeug in zwei der legendärsten Punk-Bands der Zeit, bei Willkommen in China und, ebenfalls u.a. mit Ansgar Schnizer, bei der Polenta Bande. Spätere Bands, Fleischpost vor allem, legten es vertrackter an, ein Fleischpost-Split-Tape aus dem Jahr 1994 - gemeinsam mit Liebenau - markiert auch die Geburt von tonto als Musiklabel. Heute betreibt Kaplan tonto gemeinsam mit der Comic-Künstlerin Edda Strobl , derzeit allerdings ausschließlich als Comic-Label. Wie sehr beides miteinander verwoben ist, zeigt sich etwa daran, dass die wunderbaren frühen Fleischpost-Cover und -Flyer, die Kaplan gezeichnet hat - Raymond Pettibon mag zumindest in Bezug auf die Trägermedien Pate gestanden haben -, später zu den Covern der ersten tonto-Comics mutierten, die ab 2001 erschienen. Stolze Auflage der ersten Ausgabe („Genossen"): 250 Stück!
2001 bricht das persönliche Werkverzeichnis Kaplans ab. 2001 setzt die mittlerweile auf imposante 14 „große" Hefte, 54 „minimal" Comics sowie ein gutes Dutzend nicht gezählter Sondereditionen angewachsene tonto-Release-List an, gespeist aus einem beständig gewachsenen und inzwischen beinahe weltumspannenden Netzwerk aus Comic-Zeichnerinnen und Zeichnern, Kollektiven und Gruppen, Festivals, Fanzines, Verlagen und Projekten, in die sich Kaplan mit seinen Arbeiten ebenso nachhaltig eingeschrieben hat wie Edda Strobl. Man kann vielleicht sagen, dass sich Kaplans Werk mit 2001 vorübergehend in tonto gelöst hat.
Kaplans Kunst hat über die Jahre die eigentümlichsten Formen angenommen. Beim FOND, dem markantesten Kunstkollektiv des Landes der Neunziger, verwirklichte er Installationen in unterschiedlichen Settings, betrieb aber auch „Feldforschungen", schuf „Tonband-Kompositionen", „Sounddesigns", „Tape-Stücke" und „Performance-Installationen", erst mit der tonto CD-Edition kehrt formal ein wenig Ruhe ein. Auf insgesamt 30 CD-ROMs veröffentlichte Kaplan zwischen 1998 und 2008 avanciertes, experimentelles Klangmaterial - nicht nur aus eigener Produktion, sondern auch von ähnlich Gesinnten wie Bernhard Lang, Peter Ablinger oder Robert Lepenik.
Musikalisch war dann lange Pause, erst diesen Sommer hat sich Helmut Kaplan wieder ans Schlagzeug gesetzt. Vielmehr hat er einen Raum seiner Werkstatt im Grazer Bezirk Jakomini - Archiv, Atelier, Lager, Labor und Wunderkammer in einem - in so etwas wie ein gewaltiges Schlagwerkhaus verwandelt. Mit Dutzenden Trommeln und Becken, unzähligen selbstgebastelten Schlag- und Zupfinstrumenten, klingenden Kreissägeblättern und einem 50-teiligen Xylophon in Eigenstimmung. Eine Batterie wie für das Ende der Tage.
Das formal überaus Eigenwillige ist der eine Aspekt, den man an Kaplans Kunst schätzen kann. Die verblüffende Offenheit seines Werks ein anderer. Und, ja, das ist ein Widerspruch. In tonto #13 („Noise") zum Beispiel, dem ersten tonto-Heft, das beim renommierten Berliner Avant-Verlag erschien (Auflage: 1.300 !!!), geht die Annäherung von Musik und Comics so weit, dass die Frage, ob das Heft nun eher grafisch notierte Musik oder mit musikalischem Gestus komponierte und gezeichnete Welt ist, völlig unbeantwortbar ist. Außerdem sind die Arbeiten so unterschiedlicher Künstler wie Kai Pfeiffer, Michael Jordan, Marco Turunen oder Nicolas Mahler derart geschickt und sorgfältig mit Eigenem verwoben, gegeneinander gestellt und ineinander verschoben, dass durch Montage, „Collage" oder Cut-up des Materials - eigentlich Techniken, die man aus Film und Musikproduktion kennt - ein Werk völlig neuer Art entsteht. Eines, das die Arbeiten der einzelnen Autoren zugleich zum Verschwinden bringt, wie es sie um andere Arbeiten und Themen auflädt, und sie dadurch auf neue, ganz wundersame Weise zum Glänzen bringt.
„Noise" ist zudem unterfüttert mit Leseanleitungen, kurzweiligen Prozessdokumentationen und Reflexionen sowie unzähligen Querverweisen in Richtung klassischer Avantgarde, auf die sich Kaplans Arbeiten ebenso beziehen wie auf die Werke der alternativen US Comic-Szene der Siebziger und Achtziger, auf Gary Panter etwa oder die Macher der „Raw"-Anthologien. Dass er sich durch seine offene Arbeitsweise möglicherweise besserer Chancen am Kunstmarkt beraubt, der eher auf starke Autorenpositionen setzt, hat er immer in Kauf genommen.
Kaplan kann seine Vorgangsweise selbst in sehr einfachen Sätzen erklären. Er sagt: „Die Form ergibt sich aus dem Material." Oder: „Das Material kontextualisiert sich durchaus immer wieder neu." Und: „Mich interessiert, dass es immer einen Schritt weiter geht." Gut 200 Mappen umfasst Helmut Kaplans Text- und Bild-Materialarchiv derzeit, chronologisch und thematisch, in mehreren „Strängen" geordnete Notizen, Zeichnungen, Skizzen, Fundstücke, Blödeleien, Recherchen, konkrete Projektideen und Schmierzettel, deren Bedeutung sich erst manifestieren muss. Dass er darüber hinaus Katzenhaar sammelt, um daraus zum Beispiel Pauken-Schlägel-Bezüge für sein Schlagwerk herzustellen, ist eine andere Geschichte. In´s Archiv „fällt rein", was „anspricht" oder unmittelbar für ein Projekt gebraucht wird, erklärt Kaplan. Verwendung findet, was zu einem Thema „anwächst" oder bei der konkreten Suche zufällig auftaucht.
Besonders schöne Beispiele für diese Techniken sind zwei von Kaplans Solopublikationen: das für den Comic-Automaten der Kabinett-Passage im Wiener Museumsquartier produzierte „Petit Bonk" (2008), das ganz aus eigenem Material „improvisiert" wurde, und das diesen Herbst für eine Ausstellung im Kunstverein < rotor > zusammengestellte Heft „Wichtiges / Diverses / Unbestimmtes" (Auflage: 25 Stück). Ohne eine Geschichte zu erzählen, erzählt Kaplan eine Geschichte, die ebenso autobiografisch wie völlig verfremdet ist, und aus übermalten Zeitungsschnipseln, Fotos, Zeichnungen aus Kaplans Archiv - darunter mehreren Variationen des „Spiralfelds" aus der Fleischpostzeit, das in vielen tonto-Publikationen unvermittelt auftaucht - und einer Tagebucheintragung aus dem Jahr 1978 besteht, die hier, um zum Anfang zurückzukommen, am Ende stehen soll: „Aufgestanden: 6h45. Schlafengegangen: 9h. Frühtemperatur: -15/-6. Tageshöchsttemperatur: -5/+1. Heute hatten wir fünf Stunden. In Schule habe ich mir das Uhrglas zerkratzt. Am Nachmittag habe ich begonnen ein Buch zu schreiben. Sonst nichts los."
Thomas Wolkinger
Stand: Oktober 2013