Als ich Olga Flor angesprochen habe
Annäherung an eine Autorin, die in halsbrecherischem Tempo vorliest
In meinem angegriffenen Zustand begebe ich mich zu einer Lesung in einer Buchhandlung, wo ich unter den Zuhörenden eine junge Frau sitzen sehe, die mich an ein Foto in einer Programmzeitschrift erinnert, und ich spreche sie an, obwohl ich fremde Menschen nur in Notfällen anspreche, sie könnten ja gefährlich sein, und ich sage ihr sicherheitshalber, dass ich nicht wirklich und förmlich, sondern quasi informell mit ihr spreche, und sie scheint zu verstehen, dass mir das ernst ist, ich erlebe eine Art Kulturschock, denn die Angesprochene antwortet druckreif dialektfrei in ganzen Sätzen, was mich vollends verwirrt, sie hat einen Roman geschrieben, den sie gerne verlegt sehen möchte, ich habe einen kleinen Ausschnitt daraus in der Programmzeitschrift gelesen, ihr Name klingt wie ein Pseudonym, sie strahlt gleichzeitig innere Unruhe und Sicherheit aus, aber warum erzähle ich das, ich sollte doch eigentlich über ihre Romane schreiben, aber die können für sich selber sprechen, „Kollateralschaden" zum Beispiel in einem gedehnten Sekundenstil, einer Form, die es im Naturalismus gegeben hat, aber „Kollateralschaden" ist gar nicht naturalistisch, und ich muss daran denken, dass Olga in halsbrecherischem Tempo vorliest, sie hat mir einmal fernmündlich einen siebenminütigen Text in gefühlten zwei Minuten vorgetragen, im Minutentakt hören wir in „Kollateralschaden", was Menschen denken und wahrnehmen, während sie einkaufen, es ist ein glasklarer Ausschnitt sozialer Wirklichkeit im Zustand zunehmender Vereisung, zugleich komisch und deprimierend, all diese biederen Ungeheuer mit ihrem Wunsch, in einem System aufzugehen, das ihren eigentlichen Bedürfnissen nicht gerecht wird, selbst der stolze Sandler ist widerlich in seinem Neid auf die bettelnden Roma, der Jugendliche, der mit seinem Sturmlauf durch den Konsumtempel den Kollateralschaden herausfordert, ist eine Hoffnung, die auf der Strecke bleibt, es ist eine furchterregende Welt, die hier entworfen wird, es dürfte sich um unser neoliberales Elysium handeln, ich kannte, als ich Olga Flor ansprach, ihren Text „Lilith" noch nicht, die Darstellung eines Lustmordes aus der Perspektive der Täterin, sonst wäre sie mir vielleicht unheimlich gewesen, aber auch meine eigene Gegenwart ist mir mitunter unbehaglich, sie hatte den Roman „Talschluss" noch nicht geschrieben, geschweige „Die rechte Braut", Keimzelle und Vorgeschichte zu „Kollateralschaden", aber in diesen Minuten wird mir klar, dass sie das alles schreiben werde, in Flann O'Briens Kolumnensammlung „Trost und Rat" gibt es eine Auflistung von Langweilern, darunter den „Mann, Der Es Im Manuskript Gelesen Hat", nun, ich bin so einer, ich habe Olga Flors ersten Roman „Erlkönig" im Manuskript gelesen und konnte ihren klaren bösen Blick auf die Widersprüche heutiger Existenzformen zwischen Zweckrationalität und Auflehnung kennenlernen, auch ihren im Herbst 2012 erscheinenden Roman „Die Königin ist tot", ihr Meister(innen)stück, in dem Motive aus Shakespeares „Macbeth" in die Gegenwart projiziert werden, die Monstrosität der Ich-Erzählerin wird schon auf den ersten Seiten - einem virtuosen, betont kaltschnäuzigen Einstieg - überdeutlich, das hat eine gewisse Karikaturnähe, wird aber nie ganz zur Karikatur, behält seine Unheimlichkeit, die Figur wird innerhalb ihrer Figurenrede kritisiert, was diese Lady Macbeth der Medienwelt antreibt, ist „das eigene Vorankommen", ein buchstäblich mörderischer Ehrgeiz, sie hasst die Verhältnisse, denen sie sich scheinbar anpasst in einem verzweifelten Versuch der Selbstbestimmung, die in einer patriarchalischen Welt für sie nicht vorgesehen ist, Sexualität ist in diesem Zusammenhang nichts als Machtausübung, aus der Warte der Ich-Erzählerin eine Dienstleistung, Vorleistung für die Ehe, diese Form der Verdinglichung hat allerdings auch hinreißend komische Momente, es ist ein vordergründig zynisch wirkender Text, der letztlich alles andere als zynisch ist, denn der Roman lässt sich als Anklage gegen unhaltbare gesellschaftliche Verhältnisse lesen, eine zunehmende Martialisierung angesichts ökonomischer Krisen, wie in einem geschlossenen System wird hier alles auf Entfremdung hin konstruiert, mit dem gemeinschaftlichen Mord als Liebesbeweis, aber ich sollte nicht zuviel über diesen Text verraten, ich habe noch gar nicht gesagt, wie schön ich den Schluss von „Talschluss" finde, „die Zunge moosbewachsen", offiziell habe ich „Die Königin ist tot" gar nicht gelesen, vielleicht habe ich den neuen Roman sogar erfunden, wie ich ja gegenüber Olga betont habe, unser erstes Gespräch habe nie stattgefunden, und auch heute, viele Gespräche später, denke ich mir, im Grunde hat diese Einschränkung für alle Gespräche gegolten, das eigentliche Gespräch ist in eine unbestimmte Zukunft verschoben, wo wir uns dann rückhaltlos austauschen werden ...
Günter Eichberger, März 2012