Man „schreibt“ einen Film immer drei Mal
oder Wie lebt man mit einer Filmneurose?
Seit seiner Ausbildung am European Filmcollege in Dänemark bereichert Martin Kroissenbrunner das steirische Filmschaffen. Das Grazer Publikum kennt ihn durch Spielfilme wie „Echelon" (2003), „Zweifel" (Rechbauerkino, Graz 2006 / film:riss - Festival der studentischen Filmkultur Österreichs, Salzburg 2006) sowie dem abendfüllenden „Licht in leeren Häusern" (Rechbauerkino, Graz 2010 / Schubert Kino Open Air, Graz 2010). Im Oktober 2010 wurde ihm das Filmstipendium des Landes Steiermark verliehen, im Frühjahr 2011 wird sein neues Opus, „Vierter Sommer", in die Kinos kommen.
Was Martin Kroissenbrunner in seiner Arbeit als Regisseur bestimmt, ist dass er auch Autor ist. Meist entwickelt sich eine Story bei ihm aus einem scheinbar belanglosen, willkürlichen Moment - ein aufgeschnapptes Gespräch zweier Fremder auf der Straße, die Melodie einer Liedzeile oder die Monotonie einer Autofahrt. „Im besten Fall schreibt sich die Geschichte von selbst", sagt der Regisseur. „Die Figuren sprechen aus sich heraus und beginnen zu erzählen; da hört man nur mehr neugierig zu und schreibt mit."
Der rote Faden durch die vielen verschiedenen Ideen Kroissenbrunners ist die Frage nach dem Menschlichen, das sich aus all dem entwickeln kann und letztendlich wird. Am interessantesten ist dabei für ihn die Interaktion zwischen den Beteiligten: Das Menschsein, was es ausmacht und was es mit einem macht, nicht zuletzt im Zusammenspiel mit anderen. Eigene Ängste, Sehnsüchte und (Über-)Lebensmodelle wirken in dieser Beschäftigung ebenso mit wie der Drang, einen ganz persönlichen Moment zu schaffen; einen Moment, der gleichsam aus der Leinwand heraus für viele eine universelle Wahrheit anspricht.
Ob Komödie oder Thriller, auch beim Filmdreh am Set wird der Fokus auf die zwischenmenschliche Interaktion gelegt. Im Vorfeld misst Kroissenbrunner der Dramaturgie eines Filmes großen Wert bei. Mit akribischer Detailgenauigkeit wollen die Einstellungen und Szenen um den Kern der Geschichte gebaut und arrangiert werden. „Das ist so, als würde man behutsam eine Zwiebel schälen, um an das Innerste vorzudringen." Dass der Mensch und Emotionsausbrüche zwischen den Zeilen Platz finden können, ist Teil seiner dramaturgischen Anstrengungen. „Das Spannende am Dreh ist dann, den Cast nicht nur als reine Schauspieler, sondern auch oder vor allem als ganzheitliche (Privat-)Personen wahrzunehmen". Im Entstehungsprozess vor der Kamera nimmt sich das Team folglich gemeinsam Zeit, um Momente geschehen, Emotionen aufbrechen zu lassen. Die genaue Wortfolge des Scripts wird manches Mal zugunsten einer Unmittelbarkeit und einer emotionalen Durchlässigkeit aufgegeben. Die Improvisation nimmt die Emotion auf und gibt sie, wenn auch mit anderen Worten, unverfälscht wieder. Den Laienschauspielern in seinen Filmen wird durch diese „Happy Accidents" die Chance zuteil, sich zu öffnen und einen ganz persönlichen Beitrag zur Geschichte zu leisten.
Diesem chaotischen, emotionalen, wilden und nahezu organischen Prozess folgt die Phase der Rückbesinnung auf erneute Ordnung und Struktur. Martin Kroissenbrunner lebt hier nun seine dritte Berufung aus, nämlich die als Cutter. Er „schreibt" somit in letzter Stufe seinen Film zum dritten Mal. Alles kann hier noch durch bewusste Szenenfolge in andere Wege gelenkt werden. Momentan - im Herbst 2010 - wird sämtliche Zeit in den Schnitt des neuesten Filmprojekts „Vierter Sommer" (ab 2011 zu sehen) investiert.
Als Regisseur von mehreren Spielfilmen ist dieses anerzogene, kritische Auge beim privaten Filmgenuss aber oft auch hinderlich. Filme, die es dennoch verstehen, mit Erwartungen zu brechen, zu überraschen und den analytischen Filter zu umgehen, sind für den jungen Grazer Regisseur besondere Erlebnisse. Sie sind spannende Lehrstücke und auch Ansporn zu eigenen neuen Projekten - deren viele als Ideen schon auf zahllosen Post-its und Notizzettel niedergeschrieben sind oder als Gedankenfragmente noch im Kopf fertig erdacht werden wollen.
Elmar Stengg , 2010