Fast normale Zeiten (*)
Elisabeth Scharang auf den Spuren der Wahrheit in reichlich bergigem Gelände.
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„Denn wie so oft: Die Wahrheit ist so unglaublich, dass sie keiner glauben will." (Elisabeth Scharang). Dass dem nicht so ist - nicht so sein darf - und der „unglaublichen" Wahrheit Gehör verschafft wird, dafür sorgt seit mehr als einem Jahrzehnt die 38-jährige Steirerin Elisabeth Scharang in (Radio-)Wort und Bild resp. FM4-„Zimmer"-Lounge und ORF-normiertem TV-Screen mit Ausläufern ins Dunkel der Lichtspielhäuser.
Wie kaum eine heimische Filmemacherin versteht sie es, jenen unliebsamen Wahrheiten, deren weinseliges Verschweigen wir uns tagein, tagaus versichern, auf die sattsam bekannte Spur zu kommen, sie schonungslos zu dokumentieren, mit der diskreten Distanz des meist schweigsamen Zuhörers bloßzustellen. Wenn wundert's aber auch? Als Tochter des gesellschaftskritisch-linken - Ja, die gibt's noch! - Schriftstellers und Drehbuchautors Michael Scharang („Der Sohn eines Landarbeiters wird Bauarbeiter und baut sich ein Haus", „Der Lebemann", beide von Axel Corti in Szene gesetzt) scheint ihr die kreativ-aktive Auseinandersetzungsfreudigkeit mit dem hiesigen Gestern, dessen Braunschattierungen in all ihren Facetten bis heute immer wieder die österreichische Seele verdunkeln, wohl bereits in die Wiege gelegt.
Ergebnisse dieser Exkursionen sind mittlerweile reich und reichlich prämiert mit Staatspreis und ROMY und massig Quotenapplaus von Konsument und Politik. Was hierorts bemerkenswert und gleichzeitig überaus überraschend erscheint. Denn Elisabeth Scharang ist trotz ihrer unspekulativen Annäherung an Themen wie medizinischer Missbrauch im Dritten Reich und Österreich („Mein Mörder") oder Bombenanschläge, die rechter Terrorgesinnung folgen („Franz Fuchs - Ein Patriot"), immer eine Unbequeme, eine Quergestellte geblieben.
Auch dort, wo sich das Politische nicht auf den ersten Blick als solches zeigt, sich die Biografie eines/r Intersexuellen („Tintenfischalarm") im Brennpunkt des Gesellschaftlichen verortet. Wobei die Erdung in den Tatsachen, der dokumentarische Moment, ihr immer als Basis und Fundament dienen. Ein Fundament freilich, das der Lust am Erzählen von Ungeheuerlichkeiten im Rundum der Banalität des Ach-so-Normalen historische wie gesellschaftliche Authentizität verleiht, um auf diese Weise der künstlerischen Fiktion der Inszenierung die Freiheit zu lassen.
Von der Seuche AIDS als Generationskiller („Aids - Die Krankheit einer Generation") zum DDR-Nazi mit Ex-Punk-Parole („Vom DDR-Punk zum Neonazi"), von der totalen Überwachung nicht nur der Marktartikel-Industrie („Achtung, Kamera!" / „Die großen Verführer") bis zum „Mannsein" im Schatten erfolgreicher Frauen, von der Kindereuthanasieanstalt am Spiegelgrund auf der Baumgartner Höhe bis hin zum händelosen Handlanger einer viel größeren Geschichte, als so ein kleines Land verträgt, spannt sich also ein Bogen aus Fakten und Vermutungen, deren Antworten und (zumindest richtige) Fragestellungen sich als so unglaublich wie wahr erweisen. Und die Wahrheit ist ja, wie eine andere Unbequeme wusste, dem Menschen zumutbar.
A. Heimo Sver
Dezember 2007
*Update 2023: Eine engagierte Filmemacherin
Aktuell (im Winter 2023/24) arbeitet Elisabeth Scharang gemeinsam mit Kristin Gruber an dem Dokumentarfilm „#Nicht eine Weniger" - einem Film, in dem das das weltweite Scheitern im Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt beleuchtet werden soll. Er begleitet Widerstand von Aktivistinnen auf der ganzen Welt und präsentiert Lösungsansätze, wie man Femizid bekämpfen kann. Der Film wird im Sommer 2024 fertiggestellt.
Nach wie vor ist Elisabeth Scharang auch für das Radio tätig, ist aber von FM4 zu Ö1 gewechselt, wo sie in der Sendereihe "Punkt Eins" mit wechselnden Gästen über aktuelle Themen spricht.
2022 wurde die Regisseurin mit dem Ehrenzeichen des Landes Steiermark für Wissenschaft, Forschung und Kunst ausgezeichnet.
Filmografie (Auswahl)
2011: Vielleicht in einem anderen Leben (Spielfilm. Regie und Mitarbeit am Drehbuch)
"Vielleicht in einem anderen Leben" ist die filmische Umsetzung des Theaterstücks "Jedem das Seine" von Silke Hassler und Peter Turrini, wobei die Autoren zusammen mit der Regisseurin Elisabeth Scharang auch am Drehbuch des Films mitgewirkt haben. Dieser Film, eine Kooperation zwischen Österreich, Deutschland und Ungarn, feierte am 21. Januar 2011 seine Premiere in den österreichischen Kinos. Der Film spielt in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs im April 1945. Er erzählt von einem von der Todesmärsche, bei denen die SS und der sogenannte Volkssturm tausende Juden quer durch das zerfallende Deutsche Reich trieben, wobei viele den Tod fanden. "Vielleicht in einem anderen Leben" erhielt mehrere Auszeichnungen: 2011 den Diagonale-Schauspielpreis für Johannes Krisch, im selben Jahr den Hauptpreis beim Jewish Eye - World Jewish Film Festiva, und 2012 den Österreichischen Filmpreis für die beste Darstellerin, verliehen an Ursula Strauss.
2014: Kick Out Your Boss (Dokumentarfilm. Regie, Drehbuch, Kamera)
„Kick out your Boss" versucht alternative Wirtschaftsweise vorzustellen: Arbeiterinnen entscheiden über Unternehmensbilanzen, Kredite werden ohne die Notwendigkeit von Banken finanziert, und anstatt montags im Büro zu sitzen, verbringt man die Zeit im Kino. Angesichts von 197 Millionen Arbeitslosen weltweit und Burnout als zunehmender Volkskrankheit liefert der Film starke Argumente gegen eine auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Wirtschaft. Er greift direkt in die aktuelle Debatte ein und präsentiert überzeugende Alternativen zu herkömmlichen Wirtschaftsmodellen.
2015: Jack (Spielfilm. Regie, Drehbuch)
"Jack" erzählt die Geschichte des Serienmörders Jack Unterweger. Interessanterweise lässt Scharang die Frage nach Unterwegers Schuld in Bezug auf die Mordserie, die nach seiner Haftentlassung erfolgte - trotz seiner Verurteilung wegen neun Morden - bewusst offen. Die Premiere des Films fand am 8. August 2015 beim Internationalen Filmfestival von Locarno statt. 2016 wurde der Film mit drei Auszeichnungen beim Österreichischen Filmpreis geehrt, darunter „Beste männliche Hauptrolle" für Johannes Krisch, „Beste Musik" und „Beste Tongestaltung". Im selben Jahr gewann das Projekt auch den Thomas-Pluch-Drehbuchpreis für den besten abendfüllenden Spielfilm.
2023: Wald (Spielfilm. Regie, Drehbuch)
Der Spielfilm "Wald" mit Brigitte Hobmeier, Gerti Drassl und Johannes Krisch basiert auf dem gleichnamigen Roman von Doris Knecht. Seine Premiere feierte das Drama 2023 beim Toronto International Film Festival. Der Film dreht sich um Marian, die von der Stadt in ein abgelegenes, geerbtes Haus ihrer Großmutter auf dem Land zieht, während ihr Mann Gheorghe in der Stadt bleibt. Ohne Strom, mit wenig Geld und ohne Auto versucht sie sich durchzuschlagen und sorgt mit ihrer Anwesenheit im 10 Kilometer entfernten Dorf für Unruhe.
ARTfaces-Redaktion
Dezember 2023