Zu wenig Zeit, um nichts zu tun (*)
Über die Jazzsängerin, Autorin und Kulturaktivistin Irina Karamarkovic
Direkt zum *Update 2023
Die 1978 im Kosovo geborene Irina Karamarkovic kam schon früh mit der Musik in Berührung. In eine sehr musikalische Familie hineingeboren, hat sie schon als Kind bei diversen Festivals gesungen und dann als Jugendliche in unterschiedlichsten Rock- und Alternative-Bands Erfahrungen gesammelt. Der Zugang zum Jazz war aber kein einfacher: „Es war nicht leicht für uns, Original Jazz-CDs zu bekommen, oft kauften wir bulgarische, unbeschriftete Musikkassetten von Straßenhändlern. Es war aber spannend, herauszufinden, wer auf den Bändern spielte", sagt Karamarkovic heute lächelnd. Freunde gaben ihr aber später auch richtige Jazzplatten und so war sie früh schon von Karin Krog, Joni Mitchell, Dexter Gordon und Chick Corea's Elektric Band beeinflusst.
Durch den kurz bevorstehenden Krieg im Kosovo begann sie mit NGOs und Kulturinitiativen zu arbeiten, da sie bemerkte, dass vieles in ihrer Umgebung nicht mehr stimmte, und sie versuchte diese Umstände mit Gleichgesinnten zu ändern. So gründete sie etwa die „Post Pessimists", die einen Dialog zwischen serbischen und albanischen Studenten pflegten. Oft fuhr sie ins weit entfernte Belgrad, um Jazzkonzerte zu hören und wusste, dass sie eigentlich nach Graz wollte. „Aus drei Gründen", wie sie erzählt: „Erstens hatte die Universität in Graz einen guten Ruf, zweitens blieb ich dadurch meiner Familie nahe und drittens bin ich eine überzeugte Europäerin und wollte nicht in die USA gehen".
Nach anfänglichen Problemen mit der Bürokratie lebte sie sich in Graz schnell ein und wurde in der Szene recht gut aufgenommen. „Ich musste mich in der mir damals fremden Stadt erst beweisen; das fiel mir aber nicht sehr schwer, da ich immer wusste, was ich wollte", so Karamarkovic. Sie absolvierte das Studium des Jazzgesangs an der Kunstuniversität Graz, lernte bei Größen wie Mark Murphy und Sheila Jordan. Bei einem Engagement im Musical „The Black Rider" traf sie mit Sandy Lopicic zusammen, dessen Orkestar sie längere Zeit verbunden blieb.
Zur gleichen Zeit begannen die Bombardements im Kosovo. „Ich war alleine in Graz und sah auf CNN die Bomben in meiner Heimat fallen. Ich hatte kein Geld und war am Boden zerstört. Ich begann schließlich zu singen und zu schreiben, um eine Chance zu haben, das irgendwie zu verarbeiten", so Karamarkovic. Aus dieser Not heraus entstand die CD „Songs from Kosovo", die sie mit ihrem Quartett einspielte. Mit den literarischen Texten, die sie damals schon schrieb, gewann sie unter anderem den Literaturpreis „Fluchtwege" des Grazer Straßenmagazins „Megaphon" sowie mit „Schreiben zwischen den Kulturen" den Amerlinghaus-Literaturpreis 2004. Zurzeit arbeitet Karamarkovic an einem Roman über den Kosovo.
Karamarkovic arbeitet aktuell mit der LA Big Band (Namensgeber ist Lois Aichberger und nicht die amerikanische Metropole), mit der eine beeindruckende CD, „Sounds of Kosovo", eingespielt wurde. Darauf wird zeitgenössischer Jazz mit Texten und Liedern vermengt, was, von Karamarkovic brillant dargebracht, einen überaus spannenden und einfühlsamen Mix ergibt.
Aber Karamarkovic ist auch in anderen Genres tätig und auch dort erfolgreich. „Ich werde so oft wie Pizza bestellt", lächelt sie. Bei „Balkanizer", einem Projekt mit BJ Nevenko, werden elektronische Elemente mit balkanischer Leichtigkeit gemixt, weiters betreibt sie ein Klezmerprojekt und moderiert Megaphon-Lesungen. „Ich habe zuwenig Zeit, um nichts zu tun und mich auszuruhen", sagt sie augenzwinkernd.
Website: www.irinakaramarkovic.com
Christian Salentinig
Dezember 2007
*Update 2023: Magnetischer Avantgarde-Folk mit feministischer Schlagkraft
„Hello. I'm Elke Kahr. I'm the mayor of Graz. And sometimes I clean the toilet", spricht die Frau Bürgermeister in die Kamera, während sie die Klomuschel reinigt. Das kuriose Video ist auf der Website https://www.housewives-strike-back.com/ zu sehen, einem Projekt von Irina Karamarkovic und der Wiener Musikerin und Komponistin Daniela Fischer. Elke Kahr ist eine von 35 Frauen - Künstlerinnen, Kulturschaffende, Politikerinnen, Angestellte -, die im Rahmen des Projekts kurze Videostatements über die Doppelbelastung von Beruf und Haushalt abgegeben haben. Zusätzlich haben Karamarkovic und Fischer 2022 ein Musikalbum mit 8 Tracks veröffentlicht, auf denen es ausschließlich ums Kochen, Waschen und Putzen geht. Titel des Tonträgers: „The Housewives Fatal Submission".
Erhältlich ist das Album im „living artist's shop", einem Online-Portal, das die Arbeiten von Irina Karamarkovic und ihrem Kooperationspartner Denovaire vertreibt. Gemeinsam haben die beiden Grazer Cross-Over-Performer ein Akustik-Set und ein Elektronik-Programm entwickelt, mit dem sie ihren „Magnetic Avantgarde Neo Folk" (Eigenbeschreibung) unter die Leute bringen. Dabei fließen südosteuropäische, arabische, keltischen, Avantgarde-, Jazz-, Rock- und Pop-Einflüsse ein und ergeben ein einzigartiges musikalisches Amalgam.
Die stimmgewaltige Sängerin geht in ihren neuen musikalischen Projekten über ihre kosovarischen Wurzeln hinaus, die sie allerdings durchaus noch pflegt. Das tut sie nicht nur bei „Balkan-Gesangworkshops" im In- und Ausland, sondern auch in zahlreichen Kooperationen, etwa mit Bandkollegen Stefan Heckel und Wolfgang Derschmidt oder mit dem Akkordeonisten Lothar Lässer.
Im Coronajahr 2021 betätigte sich die Künstlerin, Aktivistin und promovierte Jazz-Forscherin zudem als Kulturanthropologin zwischen Graz und Novi Sad, wo sie sich auf die Spuren des serbischen Dichters Alexandar Tišma begab. Das Projekt „Graz - Novi Sad - Graz" wurde von Michael Petrowitsch vom Europäischen Kulturnetzwerk Austria (EPeKa) kuratiert, der resultierende Katalog steht gratis zum Download bereit.
Werner Schandor
November 2023