Die fraktalen Ostereier (*/**)
Der Schriftsteller Clemens J. Setz und der große Pool der Worte
Der erste Eindruck bei der Lektüre ist derselbe wie später im persönlichen Gespräch: Der Mann ist Jahrgang 1982, seine Sprache aber ist die eines älteren, erfahrenen, ungemein belesenen Menschen. Die Literatur von Clemens Setz ist voller Verweise, Verstecke, Varianten. Schon als kleines Kind bat er, man möge doch seine Wortspiele aufschreiben. Heute weiß er, dass er als Schriftsteller leben will, auch wenn ihn seine Umgebung im Übermaß vor den Risken dieser Berufsentscheidung gewarnt hat. Setz studiert zwar Lehramt an der Grazer Uni, zweifelt aber stark daran, ob er wirklich geeignet sei, junge Menschen mit den Mysterien der Germanistik und Mathematik vertraut zu machen.
In seinem Buch „Söhne und Planeten", das vor wenigen Monaten erschienen ist, ändern sich die Formen, Sprachstile und Perspektiven mehrmals im Verlauf der Handlung. Setz selbst spricht von vier Erzählungen, die keine klassische Kapitelstruktur ergeben. Eigentlich hatte der Autor vor, eine Sammlung von Shortstorys zu veröffentlichen, sein Verlag wollte als Debüt dann aber doch lieber etwas, das man unter dem Signet „Roman" verkaufen konnte. So entstand in einem knappen halben Jahr eine Auseinandersetzung mit jungen und gealterten Schriftstellern, mit gescheiterten Vätern und ihren entsprechend enttäuschten Söhnen. Die Geschichte ist rückwärts erzählt, wobei Setz die Idee reizvoll findet, die vier Teile wiederum in umgekehrter Reihenfolge zu lesen.
Der Mikrokosmos, den der junge Grazer schildert, ist einer der Dichter und Denker. Eine mehrmals wiederkehrende Szene beschreibt denn auch ein Schriftstellertreffen rund um einen Swimmingpool. Zudem kommt es zu einer Reihe von Metamorphosen, die nicht zufällig auf Kafka Bezug nehmen:
„Mein Gott, der Kopf! Er war so schwer - jetzt erst, als er die ersten Zeilen zu lesen begann, wurde ihm bewusst, dass er ihn überhaupt nicht mehr richtig gebrauchen konnte. Ständig fiel er vornüber zwischen die Buchseiten und stieß sich Nase und Stirn. Er war ein Monstrum! Ein Monstrum, das bei Anstrengung schrumpfte und wuchs, wenn es las. Er hatte sich in eine Allegorie seiner selbst verwandelt."
In den bisher publizierten Rezensionen zu seinem Debüt, die Setz bis auf die allererste übrigens noch nicht gelesen hat, werden zu Recht der sprachliche Reichtum und der lustvolle Umgang mit Literatur gelobt. Das Buch hat seine verwirrenden, manchmal auch verworrenen Passagen, es engt allerdings bei der Lektüre nie ein, sondern fördert Assoziationen. Dass die Leser eine Stelle herausnehmen und diese weiterdenken könnten, ist eine Vorstellung, die Clemens Setz gut gefällt. Er selbst spricht von Fraktalen: „Diese Formen haben die Idee, dass sie als Teil aussehen wie das große Ganze. Ich habe also oft kleine Geschichten, die in ihrer Struktur fast wie der ganze Roman sind. Man merkt es nicht unbedingt, aber es sind im Text viele fraktale Ostereier versteckt."
Sein nächstes Werk, an die 700 Seiten stark und mit dem Arbeitstitel „Die Frequenzen", wird Setz in wenigen Wochen abschließen. In gebundener Form aber wird es wohl erst im Jahr 2009 vorliegen. Denn vor dem Buchhändler kommt auch bei Jungautoren immer noch der gewissenhafte Lektor.
Clemens J. Setz: „Söhne und Planeten", erschienen 2007 bei Residenz.
Wolfgang Kühnelt
Dezember 2007
In den vergangenen drei Jahren etablierte sich Clemens J. Setz als einer der wichtigsten deutschsprachigen Nachwuchsautoren. 2008 erhielt er im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Wettlesens den Ernst-Willner-Preis. Im selben Jahr erregte seine Übersetzung von John Leakes „Entering Hades" unter dem Titel „Der Mann aus dem Fegefeuer" Aufsehen - ein Roman über das Leben des Mörders Jack Unterweger. Im Herbst 2009 schaffte es Clemens Setz‘ zweiter, hochgelobter Roman „Die Frequenzen" schließlich nicht nur auf die Shortlist des renommierten Deutschen Buchpreises, das Buch wurde auch mit dem Literaturpreis der Stadt Bremen ausgezeichnet. Im Jahr darauf, 2010, wurde sein erstes Theaterstück, „Mauerschau" im Schauspielhaus Wien uraufgeführt.
Nach seinem Verlagswechsel von Residenz zum Suhrkamp-Verlag veröffentlichte Setz im Frühjahr 2011 den Erzählband "Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes". Das Buch wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.
Werner Schandor
März 2011
(**) Update 2023: Nerdtum trifft auf stilistische Meisterschaft
Mit seinen Werken hat sich Clemens Setz sukzessive einen Platz in der ersten Reihe der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur erarbeitet. In seinen Büchern mischt sich eine glasklare Sprache, die an amerikanischen postmodernen Erzählern wie Thomas Pynchon und David Foster Wallace geschult ist, mit einer inhaltlichen Vorliebe für Obskures und Deviantes, die Setz in literarischen Gedankenspielen auswalzt bzw. in Essays und essayistischen Texten ergründet: So z. B. geht es im Roman „Indigo" (2012) um ein rätselhaftes Syndrom, das Menschen Übelkeit und Kopfschmerzen verursacht, wenn sie sich bestimmten Kindern nähern. Im Tausendseiter „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" (2015) konfrontiert Setz die Leserschaft mit Themen wie Stalking und sadistischem Psychoterror. Und im 2023 erschienenen historischen Roman „Monde vor der Landung" entführt er in den Kosmos der Hohlwelttheorie, die in den 1920er- und 30er-Jahren in Deutschland grassierte: dem Glauben, dass die Menschheit nicht auf, sondern im Inneren der Erde lebe.
Auch in seinen essayistischen Werken befasst sich Setz gerne mit schrägeren Themen: In „Bot. Gespräche ohne Autor" (2018) stellt er schon früh das Verhältnis zwischen Autor und Maschine in Zeiten zunehmender künstlicher Intelligenz infrage. Im Groß-Essay „Die Bienen und das Unsichtbare" (2020) befasst sich Setz mit verschiedenen Plansprachen - von Esperanto bis Blisssymbolics.
Seine obsessive Beschäftigung mit Themen und Gedankenspielen abseits des Mainstreams haben Setz den Ruf eines Nerds eingetragen, seine stilistische Meisterschaft machten ihn zu einem Liebling des deutschen Feuilletons und brachten ihm zahlreiche Literaturpreise ein. 2017 erhielt er den Literaturpreis des Landes Steiermark, 2020 den Kleist-Preis, und 2021 wurde ihm mit dem Georg-Büchner-Preis die renommierteste literarische Auszeichnung Deutschlands zuerkannt. Im Juni 2023 wurde ihm der Franz-Nabl-Preis der Stadt Graz verliehen.
Obwohl er mittlerweile in Wien lebt, ist Setz der Steiermark als Autor nach wie vor verbunden: Für die Literaturzeitschrift „Lichtungen", in der er debütierte, verfasst er seit 2019 die Serie „Poesie an unvermuteten Stellen". Und am Grazer Schauspielhaus wurde 2016 die Theaterversion seines Romans „Frequenzen" uraufgeführt. 2018 folgte ebenfalls am Schauspielhaus Graz das Stück „Erinnya". Im selben Jahr wurde auch „Die Abweichungen" am Staatstheater Stuttgart uraufgeführt. 2021 folgte „Flüstern in stehenden Zügen" wieder in Graz.
Bücher seit 2011 (Auswahl):
- Indigo. Roman. Suhrkamp: Berlin 2012
- Die Vogelstraußtrompete. Gedichte. Suhrkamp: Berlin 2014
- Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Roman. Suhrkamp: Berlin 2015
- Bot: Gespräch ohne Autor. Suhrkamp: Berlin 2018
- Der Trost runder Dinge. Erzählungen. Suhrkamp: Berlin 2019
- Die Bienen und das Unsichtbare. Suhrkamp: Berlin 2020
- Monde vor der Landung. Suhrkamp, Berlin 2023
Literaturpreise (Auswahl):
2015: Wilhelm Raabe-Literaturpreis für Die Stunde zwischen Frau und Gitarre
2017: Literaturpreis des Landes Steiermark
2018: Merck-Kakehashi-Literaturpreis
2019: Berliner Literaturpreis
2020: Jakob-Wassermann-Literaturpreis
2020: Kleist-Preis
2021: Georg-Büchner-Preis
2023: Franz-Nabl-Preis der Stadt Graz
ARTfaces-Redaktion
Juni 2023