Die Fäden lösen
Assoziativ reflektiert der Bildhauer Paul Lässer gesellschaftliche Umstände in seinen Kunstwerken
Über Juli und August 2025 war der Grazer Paul Lässer von der Initiative "KODEKÜ - Kollision der Künste" zu einem Künstleraufenthalt in Ebersbach-Neugersdorf in Sachsen eingeladen. Künstlerinnen und Künstler verschiedenster Sparten sollten um den zentralen Arbeits- und Ausstellungsort einer ehemaligen Textilfabrik (jetzt Kulturfabrik Lina Koch) ortsbezogene Arbeiten entwickeln, möglichst in Interaktion mit interessierten Anwohnerinnen der Kleinstadt an der tschechischen Grenze.
Lässer, der sich selbst als Bildhauer beschreibt, der „den Begriff Bildhauerei gerne dehnt", entwickelte aus einer ersten Idee um die bis zur deutschen Wende hier ansässige Textilindustrie sukzessive ein Projekt, das über performative Aspekte schließlich in Plastiken und Installation mündete. In einer Art symbolischen Akts, nahm er einen „Rückbau" wirtschaftlicher und politischer Geschichte des Orts vor, indem er in langwieriger Arbeit einzelne Fäden von Textilien mit einem Messer auslöste. Dabei wurde ein 25-minütiges Video des Vorgangs aufgenommen. Rückwärts abgespielt, entsteht der Eindruck, er hätte mit dem Messer gestrickt. Die Moiren der antiken Mythologie kamen ihm dabei in den Sinn, Schicksalsgöttinnen, die für jeden Sterblichen einen Lebensfaden spinnen. In der nordischen Mythologie sind es die Nornen, die den Schicksalsfaden spinnen, während die drei Frauen für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen. Das aus Kleidungsstücken solcherart gewonnene „watteartige" Material, wurde schließlich zu einem plastischen Schriftbild geformt, das als FADE - im Sinn von verblassen, verschwinden - an einer Wand des Ausstellungsgebäudes zu lesen stand. Die Nornen zudem werden begleitet von sechs Schwänen, die bei Lässer als Stuckatur und in kämpfender Pose die Rivalität zwischen Ost und West und gekränkten Stolz symbolisieren.
Die Kunst und die Gesellschaft
1992 in Graz geboren, absolvierte Paul Lässer die Grazer Ortweinschule in der Fachsparte "Plastische Formgebung". Aus Überlegungen, unter welchen Umständen ein Bildhaueratelier zu betreiben wäre, gründete er gleich nach der Matura mit Schulkollegen den Kunstverein "Roter Keil". Seit 2012 besteht ein Gemeinschaftsatelier in einer vormaligen Werkhalle im Grazer Bezirk Eggenberg. Der von 2020 bis zum Mai dieses Jahres in der Idlhofgasse betriebene Ausstellungsraum des "Roten Keils" musste allerdings aus Kostengründen aufgegeben werden.
Ein Aufenthalt in Belgrad im April und Mai 2025 wurde durch das Atelier-Auslandsstipendien-Programm des Landes Steiermark ermöglicht. Lässers Gastgeber waren die bildenden Künstler Selman Trtovac und Goran Dragaš. Arbeiten konnte er während dieser Zeit im Atelier von Trtovac und in denen von Viktor Kiss und Ivan Gračner, ebenfalls bildende Künstler, die Lässer schon seit einem früheren Besuch in Belgrad kannte.
Der Einsturz eines Vordachs am Bahnhof in Novi Sad am 1. November 2024 löste eine maßgeblich von Studierenden organisierte Protestbewegung gegen die Regierung aus. In der serbischen Hauptstadt sah sich Paul Lässer mit Blockaden und Demonstrationen nicht nur konfrontiert. Wöchentlich nahm er an Proben eines Protestchors teil, schließlich auch an einem Auftritt des Chors in einem Seniorenheim. Dementsprechend entstanden auch seine Kunstwerke in Assoziation zum öffentlich geäußerten politischen Widerstand.
Weil im anliegenden Kulturzentrum KC Radionica wöchentlich wechselnde Ausstellungen stattfinden, fragte Lässer einfach, ob er Arbeiten präsentieren könne, was ihm recht formlos auch gleich zugesagt wurde. Die kurzfristig eingerichtete Schau trug den Titel "CONDITIONS" und wurde seitens der Veranstalter Präsentation von „Fundstücken, Assemblagen und ausgeliehenen Materialien" beschrieben, die der Künstler während seines „Aufenthalts in Belgrad gesammelt und geschaffen" hatte.
Die „Säulen der Demokratie", meint Lässer über das Konzept seiner Ausstellung, sei ein Sprachbild, das Architektonisches suggeriert. Architektur wird „gebaut". Ein in der Nähe des Kulturzentrums gelegener Baumarkt wirbt mit dem Slogan "Mach es selbst" („Uradi Sam"), und Lässer lehnte Form und Slogan des Informationsplakats zu seiner Präsentation der Werbelinie jenes Baumarkts an.
„Ausgeliehen" hatte er etwa ein Element einer Schuttrutsche, eine gelbe Kunststoffröhre, von einer nahen Baustelle. Ebenfalls „geliehen" einige Marmorblöcke, mit denen der Vorplatz des Doms nun nicht gepflastert wurde. Daraus wurden Köpfe, Gesichter gehauen, die in der Installation "Renovation" scheinbar aus der Rutsche gefallen waren. Ein weiteres „Fundstück" - die demolierte Bremsscheibe eines Autos - wurde verchromt und mit gebogenen Metallstücken in Signalfarben auf einen Marmorsockel (s.o.) gesetzt: "Slippery".Die Arbeit "Reflecting Serbia" dagegen war angeregt von den ersten Eindrücken in Belgrad. In seiner Wohnung hörte Lässer Pfiffe von der Straße. Statt der Autos kamen immer mehr Protestierende auf die Hauptstraße. Das Laub der gerade austreibenden Bäume glich farblich den Warnwesten, die die Ordner der Demonstration trugen. Auf eine gelbe Warnweste malte Paul Lässer die Situation in Öl.
Website:
www.paullaesser.at
Wenzel Mraček
September 2025





