Von der schaurigen Schönheit des Schimmels (*)
Der Fotograf Klaus Pichler hält gerne fest, was man nicht so gerne sieht. Und das schaut gut aus.
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Klaus Pichler hat ein besonderes Talent: Er weiß Dinge unseres Alltags, die gemeinhin die Aufmerksamkeit nicht mehr als streifen, in ein ganz besonderes Licht zu rücken. „Ich beschäftige mich in meiner Arbeit mit verborgenen Aspekten des Alltags", erklärt der 1977 geborene Autodidakt. Für seine Fotoprojekte, die ihn oft mehrere Jahre beschäftigen, blickt er in jene Winkel und Ecken unserer Gesellschaft, die selten ausgeleuchtet werden. Für sein Projekt „Dust/Staub" etwa, an dem er von 2008 bis 2010 gearbeitet hat, hat sich der in Wien lebende Judenburger auf die Suche nach dem so genannten „Lurch" gemacht. Was die Umgangssprache als „Lurch" kennt, ist ein festes Gemenge aus Haaren, Staub und Abrieb. Ein Staubwuzel also, der jedem bekannt ist, der den Staubsauger schon mal zu lange in der Abstellkammer hat stehen lassen.
Was der brave Bürger also lieber verschwinden lässt, hat Pichler an allen möglichen Orten - vom Stephansdom bis zur Privatwohnung - gesucht, in einer Größe von zwei Zentimetern in Petrischalen archiviert und dann mit einer hochauflösenden Digitalkamera abfotografiert. Und man möchte kaum glauben, was dieser konzentrierte Blick alles an Lurch-Details freizulegen vermag, wie groß die Artenvielfalt ist, was für ein farbenprächtiges und ästhetisch beindruckendes Gebilde so ein Staubwuzel sein kann, wenn er vergrößert als Wandobjekt gehängt wird. Und das Wiener Poplabel Early Morning Melody hat voriges Jahr darauf reagiert und die Single-Edition des Songs „Staub" der Wiener Dialektpop-Formation Scheffenbichler mit den 99 verschiedenen, von Pichler fotografierten Lurchen ummantelt.
Pichlers bisheriges Opus magnum ist der Fotoband „Fürs Leben gezeichnet. Gefängnistätowierungen und ihre Träger". Dafür hat er in einem Zeitraum von sieben Jahren 150 Ex-Häftlinge interviewt, sie fotografisch porträtiert und den 184-Seiten schweren Fotoband in der Salzburger Fotohof Edition Ende letzten Jahres veröffentlicht. Dort wird die bislang kaum dokumentierte Geschichte der Volkskultur „Häfenpeckerl" zum einen fotografisch aufgearbeitet, zum anderen zeichnet der Band ein Sittenbild heimischer Gefängnisgepflogenheiten, ausgehend von den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. „Es gab immer Leute, die sich aus lauter Langeweile den größten Blödsinn tätowiert haben. Einer hat einen Socken tätowiert gehabt. Dann gab es einen, der hatte einen Revolvergurt um die Hüften gestochen, in einem Halfter war ein Butterbrot, im anderen eine Banane. In der Karlau war einer, der hat sich über den ganzen Rücken ein Aquarium tätowieren lassen, mit nur einem einzigen Fisch drinnen", gibt da etwa ein ehemaliger Häftling zu Protokoll. Und man erfährt viel über den Gefängnisalltag in heimischen Knästen, warum sich Insassen tätowieren ließen, von der nur Eingeweihten verständliche Bildsprache der Tätowierungen und über den Einfallsreichtum der Weggesperrten, die im Gefängnis illegale Tätigkeit des Stechens trotz strenger Aufseher auszuüben.
Seit Beginn des letzten Jahres bekommt Pichler national wie international immer mehr Aufmerksamkeit. In New York, Prag oder Bratislava gewann er voriges Jahr Fotopreise, auch sein aktuelles Projekt „One Third" fand schon Eingang in zahlreichen internationalen Medien. „One Third", ein Projekt über Nahrungsmittelverschwendung, bezieht sich auf eine im Jahr 2011 erschienene UN-Studie, wonach weltweit ein Drittel aller Nahrungsmittel im Müll landet. Dafür hat der studierte Landschaftsarchitekt in seiner Wohnung Unmengen an Nahrungsmittel verrotten lassen und im Zustand der Verwesung festgehalten. „Zuerst ließ ich die Nahrungsmittel in der Küche Schimmel ansetzen", erzählt er, „dann aber musste ich ins WC übersiedeln und die Nahrungsmittel in Plastikbehältern lagern, da der Geruch nicht mehr erträglich war und die Schimmelsporen auch nicht ungefährlich sind." Besonders ein vergammelter Oktopus und Hühnerfleisch setzten ihm zu. Die an die Vanitas-Stillleben als Sinnbild der Vergänglichkeit angelehnten Fotografien von über fünfzig verschimmelten Lebensmitteln kann man nicht nur als gesellschaftskritisches Statement verstehen, sie sind auch ein gekonnt ausbalancierter Akt zwischen Hochglanz-Ästhetik und Ekelabbild. Dafür hat Pichler auch Opfer in Kauf genommen: „Während der neun Monate hat mich meine Freundin nicht mehr besucht". Derzeit arbeitet Pichler an der Fortsetzung des Gefängnistätowierungen-Projekts: Er wird die Protagonisten und ihre Milieus, wie man es in den Vorstadtbeisln und einschlägigen Espressos findet, für ein weiteres Buchprojekt einer genaueren Betrachtung unterziehen.
http://www.kpic.at
Tiz Schaffer
Juni 2012
*Update 2023: Das blühende und keimende Leben
In seinen Büchern, die meist in beschränkter Auflage im Selbstverlag erscheinen, und in seinen Foto-Projekten beschäftigt sich Klaus Pichler mit dem, was für die meisten von uns meist unsichtbar bleibt. Für seine Arbeiten begibt er sich mitten ins Geschehen und verbringt so etwa zwei Jahre mit Esoterik-Fans oder auch in Wiener Mini-Gaststätten, die vom Aussterben bedroht sind. Das blühende oder keimende Leben spiegelt sich auch in den Aufnahmen von Pflanzen wider, die es eigentlich nicht geben darf oder eine ganze Nation in Verwirrung brachten. Klaus Pichler beteiligte sich neben seinen Soloausstellungen an unzähligen Gruppenausstellungen auf der ganzen Welt. Auf seiner Seite sind allein 104 Shows aufgelistet.
Publikationen
- A hoax, a prank, an internet scam, an act of agricultural bio-terrorism, Eigenverlag, Nearest Truth Books, 2023. Fotos und Text: Klaus Pichler.
Mysteriöse Samenpakete aus China verwirrten die Öffentlichkeit und Medien. Klaus Pichler fotografierte die betroffenen Pflanzensamen als angebliche Waffe von "Bio-Terroristen" in verschiedenen Stadien ihres Wachsens und assemblierte sie mit Screenshots von Social Media Postings und Zeitungsberichten. - Hier ist Literatur! Reisen zu literarischen Erinnerungsorten in Niederösterreich, Literaturedition Niederösterreich 2022. Anthologie, Hg.: Helmut Neundlinger, Julia Stattin, Katharina Strasser und Fermin Suter.
Der Bild- und Textband mit Fotos von Klaus Pichler zum 100 Jahre Jubiläum Niederösterreich vermittelt einen Zugang zu lokalen literarischen Erinnerungsorten. Mit Beiträgen von Xaver Bayer, Raphaela Edelbauer, Simone Hirth, Andreas Jungwirth, Gertraud Klemm, Ana Marwan, Mieze Medusa, Hanno Millesi, Margit Mössmer, Helmut Peschina, Ferdinand Schmatz, Michael Stavarič, Jana Volkmann, Magda Woitzuck, Michael Ziegelwagner. Ausgezeichnet als eines der „Schönsten Bücher Österreichs" 2022. - The Petunia Carnage, Eigenverlag, 2022. Fotos und Texte von Klaus Pichler.
Dokumentation einer botanischen Sensation. Orange Petunien darf es eigentlich nicht geben. Eine fotografische Spurensuche. - This will change your life forever, Eigenverlag, 2017. Fotos: Klaus Pichler, Texte: Klaus Pichler und Maren Jeleff. Für dieses Projekt besuchte Klaus Pichler zwei Jahre lang Esoterik-Messen und Treffen von Anhänger*innen von alternativen Wissenschaften und Verschwörungstheorien und drang so in eine irrationale Welt zwischen Fernheilung, Aurasprays und Einhornessenzen zwischen Leichtgläubigkeit, Humbug und Betrug vor.
- Golden Days Before They End, Edition Patrick Frey, Schweiz, 2016. Fotos: Klaus Pichler, Texte: Clemens Marschall.
Bilder, die den Zauber von Wiener Kultbeisln wie Schmauswaberl, Café Blackout, oder Salzamt und ihren Stammgästen zeigen. - Dust, Anzenberger Edition, Wien, 2015. Fotos: Klaus Pichler, Text: Josef Haslinger.
- Just the two of us, Eigenverlag, 2014.
Menschen in sehr beeindruckenden Ganzkörperkostümen (Krampus, Teddybär usw.) in ihren privaten Wohnungen. - One Third, Anzenberger Edition, Wein, 2013. Fotos: Klaus Pichler, Text: Klaus Picher & Julia Edthofer.
- Skeletons in the Closet, Eigenverlag, 2013. Fotos: Klaus Pichler, Texte: Julia Edthofer, Herbert Justnik und Klaus Pichler.
Bilder von Exponaten im Naturhistorische Museums Wien, die gerade nicht ausgestellt werden.
Einzelausstellungen
- Middle Class Utopia
2018, Galerie Le Carré d'Art, Chartres Bretagne, Frankreich - This will change your life forever
2012 Stadthaus Ulm, Ulm, Deutschland - 2017 Anzenberger Gallery, Wien, Österreich
- Golden days before they end
2016, Kunsthalle Graz, Graz, Österreich
2017, AQ Galerija, Celje, Slowenien
2017, Photon Gallery, Ljubljana, Slowenien - Just the two of us
2014, Kunsthalle Graz, Graz, Österreich
2014, Galerie ROCKELMANN&, Berlin, Deutschland
2014, Austrian Cultural Forum, Bratislava, Slowakei
2015 Anzenberger Gallery, Wien, Österreich
- Skeletons in the Closet
2011, anika handelt Galerie, Wien, Österreich
2012, Naturhistorisches Museum, Wien, Österreich
- One Third
2023, CRAF, Palazzo Tadea, Spilimbergo, Italien
2022, United Nations, Istanbul, Türkei
2021, Kale Art Center, Istanbul, Türkei
2018, Provinciehuis, The Hague, Niederlande
2014, European Economic and Social Forum, Brüssel, Belgien
2014, House of Photography, Bratislava, Slowakei
2014, UN FAO Asia Headquarter, Hong Kong, Hong Kong
2014, Rathausgalerie Graz, Graz, Austria
2012, ADEME gallery, Limoges, Frankreich
2012, Anzenberger Gallery, Wien, Österreich
2012, The Thief Hotel Gallery, Oslo, Norwegen
2012, EIKON Schaufenster, Museumsquartier, Wien, Österreich
2012, United Nations FAO Headquarter, Rom,Italien
Gruppenausstellungen (Auszug)
- 2019 Gefängnis, Deutsches Hygienemuseum, Dresden, Deutschland
- 2017 Skeletons ... in Fauna, Kolga Tbilisi Photo, MOMA Tiflis, Georgien
- 2016 Golden Days, Angkor Photo Festival, Angkor, Thailand
- 2016 One Third, Vestigios, Galeria Rabieh, Sao Paolo, Brasilien
- 2016 Golden Days, Singapore International Photo Festival, Singapur
- 2015 Just the two of us, Delhi Photo Festival, Delhi, Indien
- 2014 Skeletons in the closet, Sensorium Festival, Goa, Indien
- 2014 One Third in Pineapples, Portrait Society Gallery, Milwaukee, WI, USA
Lydia Bißmann
Dezember 2023