Ein Kollaborateur auf Alltagswegen (*)
Michael Hieslmair analysiert – individuell und in unterschiedlichen Gruppenkonstellationen – soziale und räumliche Transformationsprozesse.
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Nur kurz die Beine vertreten, eine Klo-Pause oder ein nötiger Tankstopp. Während man von einem Ort zum nächsten zu gelangen sucht, säumen in regelmäßigen Abständen Autobahnraststationen den Weg, aufgefädelt wie Perlen entlang der Verkehrsströme durch Europa. Orte, denen man das Fehlen von Geschichte, von Relation und Identität, verbunden mit kommunikativer Verwahrlosung, attestiert. Im Rahmen des oberösterreichischen „Festivals der Regionen“ überzeugte die Arbeit „EXIT St. Pankraz“ als künstlerischer Zugang vom Gegenteil. Angesiedelt an einer der wichtigsten transalpinen Nord-Südverbindungen, wo die geografischen Ziele ebenso vielfältig sind wie die Autokennzeichen der Herkunftsländer, bündeln sich Menschen und Geschichten.
Mobilität ist eines jener menschlichen Handlungsfelder, dessen Spuren Michael Hieslmair verfolgt - anhand von gewissenhafter Recherche. Gemeinsam mit Künstlerkollegen wie Michael Zinganel liest er Erfahrungen und Erzählungen von Passanten auf, von Anwohnern und Nutzern, Arbeitenden und Konsumenten. Dabei bilden formale Festlegungen bereits während der Recherche eine Art Forschungsraster. Die Visualisierung von Zwischenschritten in Form von Mediencollagen dient unter anderem als Werkzeug für die Kommunikation mit den Akteuren.
In präzise gesetzten Rauminstallationen, vor Ort oder auch in Ausstellungsadaptierungen, kommen real-fiktive Stellvertreter an einzelnen Hörstationen schließlich zu Wort: von der WC-Betreuerin aus Kasachstan über den lokalen Monteur bis zur Gastarbeiterfamilie aus der Türkei. Lebensläufe im Verkehrsfunk-Stakkato aus Materialien, die während zahlreicher Workshops und Gespräche zusammengetragen wurden. „Anders als Anthropologen denken Künstler dabei nicht vorrangig in Texten", so Michael Hieslmair über die Herangehensweise. Die Resultate schaffen ein breiteres Spektrum an möglichen Lesarten. Und verzweigen sich vor Ort mitunter in dreidimensionalen, als Möbel benutzbaren Wegenetzdiagrammen.
Selbige können räumliche Beziehungen zwischen Menschen und der von ihnen belebten Stadtarchitektur ebenso nachzeichnen wie Strukturverschiebungen, die sich innerhalb gewohnter Muster durch Migration ergeben. In einem Grazer Wohnviertel hat das Duo Hieslmair/Zinganel Trafiken als Knotenpunkte entlang der Alltagswege definiert und diese mit verzinkten Stahlrohren als Diagramm sichtbar gemacht (Trafikcity); mit Hörstationen versehen, ergeben ebensolche Windungen im Schrebergarten an der A40 nahe Bochum das Netzwerk typischer Tankstellenstammkunden einer Autobahntankstelle in unmittelbarer Nachbarschaft, während jenseits der Lärmschutzwand auf dem Parkplatz der Raststätte die Migrationswege der Kleingärtner nachgestellt werden (Driveway Transit Exit. Alltag im Labyrinth). Schlichte Kartonmodelle und Audiosequenzen veranschaulichen Zugänglichkeiten und Abhängigkeiten innerhalb von Stadträumen (Crossing Gates), Comicstrecken und Bergmodelle die Ergebnisse einer Recherchearbeit zur ostdeutsch-tirolerischen Beeinflussung durch saisonale Arbeitsmigranten (Saison Opening - Saison Stadt, gemeinsam mit Hans-H. Albers, Maruša Sagadin und Michael Zinganel).
Dass Michael Hieslmair ursprünglich von der Architektur - er studierte in Graz und Delft - und eigentlich ganz zufällig zur Kunst gekommen ist, spürt man nicht zuletzt in der behutsamen Befragung des thematisierten und zu bespielenden Raumes und der dort agierenden Personen: „Wenn der Ort der Recherche und der, an dem die Arbeit letztendlich gezeigt wird, in eins fallen, kann man auf die Stimmung am Ort selbst setzen und muss die Umgebung nicht nochmal erzählen“, meint er, „allerdings sollte man von Beginn an den Menschen genau erklären, was man vorhat.“ Dann werden sie das Ergebnis auch schätzen und die BesucherInnen vielleicht sogar selbst durch die Installation führen. Oder sie organisieren für die Künstler den Abbau: Die findigen Bochumer Kleingärtner werden das Baumaterial des Projekts für sich verwerten - und setzen so einen alternativen Transformationsprozess in Gang. Zwischen Analyse und Alltag schlängeln sich Routen und Routinen.
Eva Pichler
2010
*Update 2023: In Bewegung bleiben
Michael Hieslmair hatte 2010/11 einen Lehrauftrag am Institut für Gestaltung an der Universität Innsbruck und 2011/12 einen Lehrauftrag am Institut für Stadt- und Baugeschichte (mit Judith Laister) an der TU Graz. Die letzten zehn Jahre fokussierte sich seine künstlerische Tätigkeit auf das Gelände rund um den Wiener Nordbahnhof.
Gemeinsam mit Michael Zinganel gründete Michael Hieslmair 2012 die Forschungsplattform Tracing Spaces. Seit 2015 betreibt Tracing Spaces einen Projektraum am Nordwestbahnhof, wo eingebettet in das soziale Milieu der Logistiklandschaft eine mehrschichtige multimediale Kartografie der Migrations- und Mobilitätserfahrungen von hier tätigen Akteur*innen erstellt wird. Theaterstücke, Touren durch das Logistik-Zentrum, Publikationen und Ausstellungen werden von Michael Hieslmair und dem restlichen Team auf unterschiedlichste Art und Weise konzipiert und gestaltet. Mit Tracing Spaces designt Michael Hieslmair auch Ausstellungen wie im Volkskundemuseum Wien oder im Az W, Architekturzentrum Wien.
Forschungsprojekte von Tracing Spaces
- Graz Backstage (im Rahmen des Kulturjahres 2020) untersucht die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der „Infrastrukturen" zur Ver- und Entsorgung der Stadt
- Excavations of the darkest Past. 2021. Baustelleneinrichtung künstlerischer ‘Ausgrabungsarbeiten' am Wiener Nordwestbahnhof. In einer großräumigen Freiluft-Installation werden „Spuren" zweier historischer Ereignisse an ihren Originalschauplätzen rekonstruiert. Die Grundrisslinien der 1952 abgebrochenen Bahnhofshalle und der 1938 darin aufgebauten antisemitischen NS-Propaganda-Ausstellung „Der ewige Jude" wurden im Maßstab 1:1 am Boden nachgezeichnet und als Erinnerungsmal „freigelegt".
- Holidays after the Fall. Ein Projekt zur Geschichte und Transformation sozialistischer Ferienarchitekturen.
Ausstellungen, Ausstellungsbeteiligungen und Aktionen (Auszug)
- 2023 Gesammelt um jeden Preis! Warum Objekte durch den Nationalsozialismus ins Museum kamen und wie wir damit umgehen. Volkskundemuseum Wien. Gestaltung der Ausstellung: Tracing Spaces.
- Wien Fischgeschichte(n). 2020. Ausstellung und Intervention im öffentlichen Raum zum Thema Fisch in der Stadtgeschichte Wiens. Sonderausstellung im Museum Nordwestbahnhof.
- Nordwestpassage. 2019. Mobiles Stationen-Theater am Wiener Nordwestbahnhof gemeinsam mit TiB Theater im Bahnhof.
- Kalter Krieg und Architektur. 2019. Baugeschehen im Nachkriegs-Österreich im Diskurs des Kalten Krieges. Az W, Architekturzentrum Wien.
- Schulausflug steirischer herbst 2018. Eine Installation am Andreas-Hofer-Platz beschäftigte sich mit einer fiktiven Busreise von Schüler*innen in der Zwischenkriegszeit vor dem Hintergrund von Wiederaufbau, Austrofaschismus und Zwangsarbeit.
Publikationen (Auszug)
- Blinder Fleck Nordwestbahnhof. Biografie eines innenstadtnahen Bahnhofsareals. Autoren: Michael Hieslmair, Bernhard Hachleitner, Michael Zinganel. Verlag: Falter Verlag, 2022. Das Buch ist unter den Preisträgern für „Die schönsten Bücher Österreichs" 2022.
- Stop and Go. Nodes of Transformation and Transition. Hrsg. Michael Hieslmair, Michael Zinganel. Mit Texten von: Michael Hieslmair, Johanna Kandl, Emiliya Karaboeva, Sonja Leimer, Juan Moreno, Katarzyna Osiecka, Tarmo Pikner, Tatjana Vukosavljević, Michael Zinganel. Academy of Fine Arts Vienna, 2019
Zur Website von Tracing Spaces
Lydia Bißmann
November 2023