Von Rohbau und Obdach (*)
Über die partizipatorischen Leben-Kunst-Collagen von Roswitha Weingrill
Wer die Möglichkeit hat, in der Innenstadt essen zu gehen, kann die verschiedensten Kulturen kennen lernen. Das ist ganz gewiss schick, wahrscheinlich nicht ganz billig und sicherlich sehr gekünstelt. Reales Kulturleben existiert anderswo. Zum Beispiel in der kommunalen Wohnsiedlung „Am Schöpfwerk" in Wien.
Nicht noch ein abgehobenes Kunstprojekt nahezu unkommentiert in ein Problemfeld „hineinstellen" - das war das Credo der vier Kunststudentinnen, Eva Engelbert, Marlene Hausegger, Tina Oberleitner und Roswitha Weingrill, als sie begannen, sich mit diesem Wiener Stadtteil aus den frühen 80er-Jahren auseinanderzusetzen. Mit 5.000 Bewohnern und 20 verschiedenen Sprachen. Und so ist es dann auch geworden. Ganz anders. Das Resultat fühlt sich gut an, handlich, und schafft es, zumindest einige der Bewohner mit Stolz zu erfüllen. Dass sie etwas von sich weitergeben durften, ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen konnten. Dass etwas nahezu Selbstverständliches interessant wurde. „Hier wird nur mit Liebe gekocht" ist eine partizipatorische Kochbuch-Kunstwerk-Collage, die so ganz nebenbei 20 verschiedene Menschen und ihre (Ess-)Kulturen vereint. Lebensrealität, wie sie auf den Tisch kommt. Ein gemeinsamer Nenner, der gegenseitige Akzeptanz aufbauen hilft.
Was wir über das Lager denken. Das nächste „Kunst"-Buch der vier ist bereits in Arbeit und wird von Traiskirchen handeln. Jener Stadt, die mit einem Auffanglager für Flüchtlinge gleichgesetzt wird. Wie es „dort" ist, reißt zu Spekulationen hin, die hin und wieder von Medienberichterstattung gespeist werden. Sich einfach nur Zutritt zu verschaffen, scheint den Künstlerinnen nicht genug. Was sollte man dort auch machen? Eine Fotoreportage? Man tastet sich also von außen an das Lager heran, befragt Menschen, über das, was sie wissen, was sie gehört haben. Buntgemischt. Jene, die dort arbeiten, Rechtsanwälte, die Fälle von Flüchtlingen übernehmen, BewohnerInnen des Ortes, BetreuerInnen seitens der Kirche, NGOs. Ein Umkreisen der „einen" Wahrheit, das ein lebhaftes, weil mehrdeutiges Bild zeichnen wird.
Kosovarische Rohbauten. Roswitha Weingrill hat selbst ehemalige Flüchtlingsgebiete besucht. Die Wiener Festwochen ermöglichten mit „Into the City" eine Begegnung mit Kosovaren, die in Österreich leben und arbeiten. In der Folge machte man sich ins ehemalige Krisengebiet auf, um deren Familien kennen zu lernen. Vor Ort ist der Wiederaufbau im Gange. Man arrangiert sich. Vieles ist Provisorium. Nach zehn Jahren sind es ziegelrote Rohbauten, die die ländliche Landschaft bestimmen. Wie Skelette manifestiert sich in ihrer Unfertigkeit die stete Ungewissheit dieses Landstrichs, der so viel zu erdulden hatte und sich scheinbar scheut, erneut tiefe Wurzel zu schlagen. Und endlich Verputz aufzutragen. Roh zahlt weniger Steuern.
Die Unvollkommenheit visualisiert ebenso die zerstreuten Familienstrukturen: um Altes hat man herumgebaut, für neue Familienteile Anbauten dazugegliedert. Drinnen ist es trotz allem gemütlich, auch wenn unbeheizte Räume an jene denken lassen, die im Ausland arbeiten und „nur zu Besuch" in die Heimat kommen. Die strenge „Ziegelführung" lässt in den Bildern allerdings keinen Blick auf dieses Dahinter zu, legt Assoziationen mit bunkerartigen Gebilden nahe.
Über „Anti" und Animation. Mit rasch hingekritzelt wirkenden Bildern wie „Hahaha, ich bin der Antiwitz" wird von Roswitha Weingrill der künstlerische Prozess als solcher thematisiert: Zum ersten Arbeitsschritt, dem Auspacken der Leinwand, ist es gar nicht erst gekommen, ihre durchsichtige Verpackungshaut fungiert als „äußerer" Bildträger, der vielleicht eine Vorarbeit dokumentieren könnte. Das Anti-Bild, das eine Zwischenstufe darstellt, deren Veränderungen das Bild an sich ja gar nicht betreffen, nur seine „Schutzhülle" antasten. „Anti" stellt dabei als Vorsilbe eben jene Frage nach Wertigkeiten. Und Humor.
In animierter Form werden aus Roswitha Weingrills Zeichnungen kleine, reduzierte Filme, die Alltagsphänomene reflektieren: „Erbaut der Plan" zeigt das Verhältnis zwischen Menschengruppe und Gebäude - die Verrenkungen der architekturbegeisterten Fotografen vor Le Corbusiers Unité. In „Jammerlappen" versetzt sie sich in einem Selbstportrait durch stetes Raunzen in eine Art Trance, bei „Immer währt am Längsten" wird das farbige Ausfließen, das durch oftmaliges Kopieren entsteht, mit der Beobachtung des steten Auftauchens und Verschwindens von Passanten vom Wohnungsfenster aus kombiniert.
Wo das Dach fehlt. In ihren Arbeiten über Obdachlosigkeit („Stadt und ObDach"), die im Rahmen eines Projektes mit der Armutskonferenz und der Wiener Straßenzeitung „Augustin" entstanden, hat Roswitha Weingrill eine feine Symbolik entwickelt. Eine Art Platzhaltersystem, das die Ausgestoßenen vorsichtig in die Malerei überführt. Menschen ohne feste Wohnung sind der Gesellschaft schutzlos ausgeliefert. Das Schamgefühl, das durch diesen Mangel an der Lebensgrundlage hervorbricht, will sie nicht verletzen. Aber wie geht man als Künstlerin mit sozialen Problemen um? Wo ist die Grenze zur Sozialarbeit, zur journalistischen Reportageübung? Roswitha Weingrill komponiert sehr symbolische Bilder, ihrer subtilen Kraft vermag man sich kaum zu entziehen, wenn man die kindlich wirkenden Codes erst entziffert hat: „Vollwertige" Menschen haben ihre kleinen Häuschen, drängen sich dicht aneinander, Dach an Dach. Obdachlose müssen mit grünen Drehstühlen auskommen, schlittern durch diese abweisenden Stadtkonglomerate, ohne Anschlussmöglichkeit. Sie haben keinen festen Stand, keine Bezugspunkte. Oft wird mit Scheinwerfern wie mit dem Finger auf diese Drehstühle gezeigt. Wird ihr Scheitern vorgeführt.
Es geht Roswitha Weingrill nicht um Gesichter, oder Schicksale. Auch wenn Eindrückliches aus den Gesprächen mit den „Augustin"-Verkäufern in Textfragmenten auftaucht. Vielmehr geht es darum, dass uns all das nicht so fern liegt, wie wir immer glauben. Dass das Sicherheitsnetz durch einige unglückliche Zufälle plötzlich auch reißen kann. Und die Person ohne alle, ohne alles dasteht. Als grüner Drehstuhl.
Biografisches:
Roswitha Weingrill wurde 1984 in Graz geboren; 2003-2009 Universität für Angewandte Kunst, Wien: Kunst und kommunikative Praxis, Bildnerische Erziehung (Erwin Wurm, Barbara Putz-Plecko), Design, Architektur und Environment für Kunstpädagogik, Technische Werkerziehung (James Skone); 2009 Arbeitsstipendium des Landes Steiermark für Bildende Kunst, 2009 Otto Prutscher Fonds; 2009 Preis für andere Errungenschaften in der Cocktailrobotik, Roböxitica. . Lebt und arbeitet in Wien.
Ausstellungen (Auswahl):
• Dach und Fach, Innenansichten 05, Stadtmuseum Graz 2009
• Ich bin ganz woandes, Into the City/Wiener Festwochen, Kulturhaus Peja (Kososvo) 2009
• Brückenkopfgebäude Linz; Volkskundemuseum Wien 2009
• Huntenkunst 09, Kunstbörse, Doetinchen 2009
• De Ostenriikers komen, Galerie bij de boeken, Ulft, PlanB 44/sic!, Antwerpen 2008
• Eine Ausstellung nicht zu diesem Thema, Kulturzentrum Unterhaus, Passau 2008
• Portrait der Armut, Bildungshaus St. Virgil, Salzburg 2008
• The Essence, MAK Wien 2007
• Unité, Pavillon der Tiroler Künstlerschaft, Innsbruck 2007
• ... die im Dunkeln sieht man nicht..., Kunsthalle Exnergasse, Wien 2007
• Hier wird nur mit Liebe gekocht! - Rezepte und Geschichten aus dem Gemeindebau Wien, Partizipatorisches Kunst-Koch-Buchprojekt 2006
Eva Pichler, Dezember 2009
ARTface-UPDATE: ROWITHA WEINGRILL - KONSEQUENT UND INTERDISZIPLINÄR
Roswitha Weingrill hat als KUNSTRAUM STEIERMARK-Stipendiatin 2017 das Steinpaißhaushof in Anger bei Weiz bezogen, wo sie nicht nur arbeitet, sondern auch ihr Atelier als KOMM.ST.-Lab bezeichnet, eine Art Expositur des jährlich stattfindenden Kunstfestival in der Region Weiz, das von den Brüdern Roland und Georg Gratzer vor sechs Jahren ins Leben gerufen wurde. Weingrill sieht ihr Atelier als Anknüpfungspunkt für und zwischen den KünstlerInnen regional und überregional.
Eigentlich kommt sie künstlerisch „von der Zeichnung", aber all ihre Projekte sind interdisziplinär und machen ein thematisch konsequentes Arbeiten sichtbar.
So möchte sie in einem Projekt den Prozess der Entstehung von Tropfsteinen filmen und in Echtzeit 24 Stunden pro Tag über Webcams übertragen. Einerseits schürt sie damit das „Big Brother"-Reality-Show-Bedürfnis der Menschen und knüpft andererseits an die berühmte „Trojan-Room-Kaffeemaschine" an, die Auslöser für die erste Webcam war. An der britischen University of Cambridge wurde im Rechnungslabor von einer Filterkaffeemaschine und ihrer Befüllung in regelmäßigen Abständen ein Foto gemacht, das dann Anfang der 90er-Jahre über das damals frische Internet mittels Webbrowser für alle MitarbeiterInnen sichtbar gemacht wurde. Hintergrund: Leere Kilometer zu einer eventuell leeren Kaffeemaschine zu vermeiden.
Weingrill entwickelt nun eine Produktionsmöglichkeit für Tropfsteine mit kalkhaltigem Wasser, das von oben tropft und den Tropfstein von unten aufbaut. „Im Moment befinde ich mich noch in einer Testphase mit Infusionsflaschen und Ähnlichem", erzählt die Künstlerin.
Interdisziplinär und partizipatorisch: Das sind zwei Eigenschaften, die sich wie ein konsequenter roter Faden durch das gesamte künstlerische Leben Weingrills zieht.
Sie hat sich für ein Projekt auf die Spurensuche jener Frauen gemacht, die im Bergwerk Rabenwald (oberhalb von Anger, Oststeiermark) Talkum sortierten und Klauberinnen genannt wurden. Weingrill hat Geschichten und künstlerische Arbeiten dazu in der Publikation „weiss auf weiss, die Klauberinnen vom Rabenwald" 2015 veröffentlicht. Über hundert Jahre sortierten Frauen Talkum (Specksteine) nach ihrem Weißheitsgrad. Frauen war die Arbeit im Untertagbau in einem Bergwerk verboten, und so war dies eine der wenigen Möglichkeiten, Geld zu verdienen. In den 1990er-Jahren wurde die Sortierung von Maschinen übernommen, die Frauen verloren ihre Arbeit. Damit begann diese Gemeinschaft von Frauen auseinanderzufallen und das Wissen wurde nicht mehr weitergegeben. Ausgangspunkt für Weingrills Publikation war das KOMM.ST.-Festival im Jahr 2013. Neben Interviews mit ehemaligen Sortiererinnen veröffentlicht sie eine „künstlerische Auslotung von ästhetisch-sozialen Aspekten der Darstellung weiblicher Handarbeit".
Einerseits fertigte sie Zeichnungen an, auf denen Hände, leere Hände, ein zentrales gestalterisches Element sind, andererseits arbeitete sie mit Speckstein und zeichnete damit direkt auf Betonwänden.
„Eigentlich komme ich aus der Zeichnung, eine Zeitlang war es weniger, jetzt finde ich wieder zurück zum Zeichnen", sagt Weingrill. Zeichnungen sind für sie innerhalb einer jeden Konzeptionsphase ein wichtiger prozessorientierter Punkt.
2014 war Weingrill als Atelier-Auslandsstipendiatin in Košice (Slowakei) und beschäftigte sich mit der Restaurierung und Bemalung sozialistischer Wohnbauten: „Farbgebung ist ein grundlegender Eingriff."
Die Grundlage für ein aktuelles Projekt „Ein Quartett in 12 Familien", das sie gemeinsam mit Sarah Bildstein, Peter Fritzenwallner und Angela Widermann gestaltete, war das Gemälde „Allegorie der Freunde" der Villa Albrecher-Leskoschek in der Hilmteichstraße 24 in Graz. Dieses Wandgemälde von Axl Leskoschek ist ein Schlüsselbild der politischen Zustände im Jahr 1937, die Villa, entworfen von Herbert Eichholzer, war selbst ein Ort des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Die Villa wurde nach zahlreichen Umbauten im Sommer 2016 abgerissen, und damit ging auch zeitgeschichtlich bedeutsame Gemälde verloren.
Weingrill gestaltete auch das Sujet der Landeskunst- und Kulturpreisverleihung 2017, eine Anspielung an die Laokoon-Gruppe, die den Todeskampf Laokoons und seiner Söhne gegen die Schlangen zeigt.
Neben all ihren künstlerischen Tätigkeiten gibt Weingrill ihr Wissen an junge Menschen weiter und unterrichtet im Lernhaus, einem Projekt des Österreichischen Roten Kreuz in Wien.
Petra Sieder-Grabner, November 2017